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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Sein Schreiben umkreist sehnsüchtig imaginierte Urerlebnisse, und seine Suche führt ihn zwangsläufig<br />

in den Kreis jener Theorien, die sich unter der Überschrift „Lebensphilosophie“ um die Wende des<br />

Jahrhunderts kristallisierten und selbst deuteten. „Leben“, das war in diesem Zus<strong>am</strong>menhang nicht<br />

nur biologisch gemeint, auch wenn insbesondere Bergson in Schöpferische Entwicklung seinen<br />

Begriff des „Elan vital“ naturgeschichtlich zu fundieren trachtete, sondern als „ein kultureller<br />

K<strong>am</strong>pfbegriff und eine Parole, die den Aufbruch zu neuen Ufern signalisieren soll. [...] gegen das<br />

Tote und erstarrte, gegen eine intellektualistische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation, gegen in<br />

Konventionen gefesselte, lebensfremde Bildung, für ein neues Lebensgefühl, um ‘echte Erlebnisse’,<br />

überhaupt um das ‘Echte’: um Dyn<strong>am</strong>ik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend.“ 3<br />

Neben Wilhelm Dilthey und Henri Bergson war es vor allem Georg Simmel, der die Entgegensetzung<br />

von Leben und Mechanismus als notwendige „Selbstentfremdung des Lebens“ ins Zentrum eines<br />

Denkens stellte, das den Widerspruch zwischen erster und zweiter Natur, zwischen Leben und<br />

Technik, Dyn<strong>am</strong>isierung und Erstarrung auf einer höheren Ebene wieder zu versöhnen trachtete.<br />

Ausgehend von Diltheys Versuch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der<br />

Geisteswissenschaften und der dort ins Zentrum gerückten Kategorie des „Erlebens“ 4 , anknüpfend<br />

an Diltheys Essayistik, hatte Simmel ein tastend-phänomenologisches Philosophieren zu seiner Sache<br />

gemacht, „in einem durchgehenden geistigen Verhalten zu allem Dasein, in einer intellektuellen<br />

Bewegtheit“ 5 , die sich intuitiv in ihren Gegenstand versenkt. Simmel hat diesen Essayismus mit einer<br />

Fabel illustriert, in der ein im Sterben liegender Bauer seinen Kindern von einem Schatz erzählt, der<br />

im Acker vergraben sei. „Sie graben daraufhin den Acker überall ganz tief auf und um, ohne den<br />

Schatz zu finden. Im nächsten Jahre aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht.“ 6<br />

Georg Simmel, 1884 habilitiert, erhielt nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Herkunft lange Zeit keinen<br />

ordentlichen Lehrstuhl und wurde erst 1914 nach Strassburg berufen, an die Peripherie der<br />

akademischen Landschaft. Sein Privatseminar in Berlin, von dem uns Balázs 1907 berichtet, erwarb<br />

einen legendären Ruf, zu seinen „Schülern“ zählten neben Béla Balázs und Georg Lukács auch Ernst<br />

Zeitschrift Neue Revue) identifiziert (siehe Zsuffa, Béla Balázs, S. 170; 442). Ob und an wen Balázs den Brief<br />

tatsächlich absandte ist nicht bekannt.<br />

3<br />

Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: Suhrk<strong>am</strong>p, 1983, S. 172.<br />

4<br />

Siehe Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing-Goethe-Novalis-Hölderlin. Vier Aufsätze.<br />

Leipzig: B.G.Teubner, 1906.<br />

5<br />

Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne.<br />

Berlin: Wagenbach, 1983 [1923], S. 10.<br />

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