Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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und den Landarbeitern, während 1913 eine große Zahl von Intellektuellen, allen voran Endre Ady, die Mobilisierung zum Generalstreik ohne Erfolg unterstützen. Die Partei selbst bläst ihn ab. Die von Ervin Szabó 114 repräsentierte syndikalistische Strömung in der Partei bleibt weitgehend isoliert, auch wenn ihm die Herausgabe einer dreibändigen Marx-Engels Ausgabe überantwortet wird. Die Bewegungen der Landarbeiter und der Kleinlandwirte bleiben zur gleichen Zeit weitgehend gespalten zwischen Forderungen nach Absicherung des Landbesitzes, Landverteilung, anarchistischem Radikalismus und Vorstellungen von genossenschaftlicher Modernisierung der agrarischen Betriebe. Eine relevante programmatische Opposition gegen die Allianz von Aristokratie, Klerus und geadeltem Bürgertum, von konservativen und nationalliberalen Kräften, erwächst zunächst aus den Kreisen bürgerlicher Radikaler, die auf die wachsende Unruhe in der Bevölkerung reagieren. 115 Am 1. Januar 1900 wird die Zeitschrift Huszadik Század (Zwanzigstes Jahrhundert) gegründet, die bis 1919 das wichtigste gesellschaftspolitische theoretische Forum in Ungarn bleibt. Ein Jahr später wird aus dem selben Kreis die Soziologische Gesellschaft ins Leben gerufen, deren Mitgliedschaft (zugleich Abonnenten des Huszadik Század) bald auf 3000 anwachsen soll. Neben dem schon erwähnten Oskar Jászi sind Gyula Pikler 116 , Bódog Somló und Pál Szendre die führenden Köpfe dieser außerparlamentarischen Oppositionsbewegung, die sich als Basis aller neuen Gedanken und Reformbestrebungen versteht und insbesondere auf klerikaler Seite heftige Gegenreaktion hervorruft. Die in Huszadik Század geführten Diskussionen über Sozialismus und Liberalismus, über die Nationalitätenfrage und die Demokratie, über das Verhältnis von Gesellschaft und Religion, über das Verhältnis von Ungarns industrieller Entwicklung zu der im Westen, berühren alle wesentlichen Fragen der ungarischen Wirklichkeit. In Ermangelung anderer Publikationsorte zieht Huszadik Század auch die wenigen Theoretiker an, die mit der Sozialdemokratie verbunden sind, wie beispielsweise Ervin Szabó. 1904 beginnt die Soziologische Gesellschaft damit, Kurse für Arbeiter 114 Ervin Szábo (1877-1918), sozialistischer Theoretiker und Politiker, ab 1911 Direktor der Hauptstädtischen Bibliothek in Budapest, Vertreter des linken Flügels der ungarischen Sozialdemokraten mit syndikalistischer Tendenz, Übersetzer und Herausgeber der Werke von Marx und Engels in ungarischer Sprache. Während des Krieges Sprachrohr der antimilitaristischen Bewegung. 115 Zur gleichen Zeit nahmen die Widersprüche zwischen Agrariern und Industrie innerhalb der regierenden Parteien zu. Zur sogenannten „Zweiten Reformgeneration“, insbesondere der Soziologischen Gesellschaft, siehe Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, sowie Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 16- 21. 116 Gyula Pikler (1864-1934), Rechtsgelehrter und seit 1898 zunächst außerordentlicher Professor an der juristischen Fakultät der Budapester Universität. Seine Rechtslehre provozierte heftigen Widerstand seitens klerikaler und konservativer Kreise und Studenten. 46

zu veranstalten, aus denen 1906 die Freischule der Gesellschaftswissenschaften hervorgeht, die das einzige breite und kontinuierliche Bildungsangebot für Angehörige der Arbeiterklasse anbietet. 117 Eine große Rolle bei der Entwicklung der Aktivitäten der bürgerlichen Freidenker spielen schließlich auch einige Freimaurer-Logen, in die Jászi und viele andere Mitglieder der Soziologischen Gesellschaft eintreten. Mit Unterstützung durch eine größere Zahl von Logen kommt es 1908, mit den Aktivitäten der Soziologischen Gesellschaft eng verbunden, schließlich auch zur Gründung des studentischen Galilei-Zirkels unter der Führung von Karl Polányi 118 an der Budapester Universität, dessen Programm öffentlicher Vorlesungen und Seminare bis in den Krieg hinein eine zentrale Rolle intellektueller Opposition spielen und der zugleich gemeinsam mit den Gewerkschaften ebenfalls in der Bildungarbeit aktiv werden wird. 1918 wird der sich schrittweise radikalisierende Galilei-Zirkel mit seinen antimilitaristischen Parolen noch einmal eine mobilisierende Rolle bei der Revolution spielen. Die Wirkung der bürgerlichen Radikalen vor 1914 stieß jedoch bald an ihre Grenzen. Die politischen Niederlagen von 1913, nach denen sich die Intellektuellen in einer ohnmächtigen Situation, zwischen reformunwilligen national-liberalen Eliten und einer zögernden, handlungsunfähigen Sozialdemokratie wiederfanden, und erst recht die bald darauffolgende Lähmung durch den Krieg stießen die „zweite Reformgeneration“, wie Zoltán Horvát und nach ihm viele Autoren sie (nach dem Vorbild der Freiheitskämpfer von 1848/49) nannten, „in eine[n] niedergeschlagenen, lethargischen Zustand“. 119 „Die Generation [...] hatte ihre historische Rolle im wesentlichen beendet“ 120 , als die Widersprüche, die Sprengsätze der Doppelmonarchie, an ihrer äußersten Peripherie, in Sarajewo entzündet wurden. Béla Balázs und Georg Lukács, eine halbe Generation jünger als die meisten Angehörigen der sogenannten „Zweiten Reformgeneration“, blieben von Beginn an zu all diesen, zunehmend radikaleren, aber schließlich gegenüber dem Verlauf der Entwicklung ohnmächtigen bürgerlich- 117 Die einer Volkshochschule vergleichbare Einrichtung bot neben soziologischen Themen auf hohem Niveau Kurse in den verschiedensten sozial-, natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern an, die bis zu 3000 Hörer gleichzeitig erreichten. 118 Karl Polányi (1886-1964), Wirtschaftshistoriker, Gesellschaftspolitiker, Mitbegründer und erster Vorsitzender des Galilei-Zirkels. Bekanntschaft mit Lukács und lockere Verbindung zum Sonntagskreis während des Weltkrieges. Als Redakteur der bürgerlich-radikalen Zeitschrift Szabadgondolat hatte Polányi aktiven Anteil an der bürgerlich-demokratischen Revolution im November 1918. Während der Räterepublik in Wien, blieb er dort bis 1933, dann Emigration nach England. Wirkte als Gastprofessor in Oxford. 1945 ließ er sich in Kanada nieder. 119 Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 466. 47

zu veranstalten, aus denen 1906 die Freischule der Gesellschaftswissenschaften hervorgeht, die<br />

das einzige breite und kontinuierliche Bildungsangebot für Angehörige der Arbeiterklasse anbietet. 117<br />

Eine große Rolle bei der Entwicklung der Aktivitäten der bürgerlichen Freidenker spielen schließlich<br />

auch einige Freimaurer-Logen, in die Jászi und viele andere Mitglieder der Soziologischen<br />

Gesellschaft eintreten. Mit Unterstützung durch eine größere Zahl von Logen kommt es 1908, mit<br />

den Aktivitäten der Soziologischen Gesellschaft eng verbunden, schließlich auch zur Gründung des<br />

studentischen Galilei-Zirkels unter der Führung von Karl Polányi 118 an der Budapester <strong>Universität</strong>,<br />

dessen Progr<strong>am</strong>m öffentlicher Vorlesungen und Seminare bis in den Krieg hinein eine zentrale Rolle<br />

intellektueller Opposition spielen und der zugleich gemeins<strong>am</strong> mit den Gewerkschaften ebenfalls in<br />

der Bildungarbeit aktiv werden wird. 1918 wird der sich schrittweise radikalisierende Galilei-Zirkel<br />

mit seinen antimilitaristischen Parolen noch einmal eine mobilisierende Rolle bei der Revolution<br />

spielen.<br />

Die Wirkung der bürgerlichen Radikalen vor 1914 stieß jedoch bald an ihre Grenzen.<br />

Die politischen Niederlagen von 1913, nach denen sich die Intellektuellen in einer ohnmächtigen<br />

Situation, zwischen reformunwilligen national-liberalen Eliten und einer zögernden,<br />

handlungsunfähigen Sozialdemokratie wiederfanden, und erst recht die bald darauffolgende Lähmung<br />

durch den Krieg stießen die „zweite Reformgeneration“, wie Zoltán Horvát und nach ihm viele<br />

Autoren sie (nach dem Vorbild der Freiheitskämpfer von 1848/49) nannten, „in eine[n]<br />

niedergeschlagenen, lethargischen Zustand“. 119 „Die Generation [...] hatte ihre historische Rolle im<br />

wesentlichen beendet“ 120 , als die Widersprüche, die Sprengsätze der Doppelmonarchie, an ihrer<br />

äußersten Peripherie, in Sarajewo entzündet wurden.<br />

Béla Balázs und Georg Lukács, eine halbe Generation jünger als die meisten Angehörigen der<br />

sogenannten „Zweiten Reformgeneration“, blieben von Beginn an zu all diesen, zunehmend<br />

radikaleren, aber schließlich gegenüber dem Verlauf der Entwicklung ohnmächtigen bürgerlich-<br />

117 Die einer Volkshochschule vergleichbare Einrichtung bot neben soziologischen Themen auf hohem Niveau<br />

Kurse in den verschiedensten sozial-, natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern an, die bis zu 3000 Hörer<br />

gleichzeitig erreichten.<br />

118 Karl Polányi (1886-1964), Wirtschaftshistoriker, Gesellschaftspolitiker, Mitbegründer und erster Vorsitzender<br />

des Galilei-Zirkels. Bekanntschaft mit Lukács und lockere Verbindung zum Sonntagskreis während des<br />

Weltkrieges. Als Redakteur der bürgerlich-radikalen Zeitschrift Szabadgondolat hatte Polányi aktiven Anteil an<br />

der bürgerlich-demokratischen Revolution im November 1918. Während der Räterepublik in Wien, blieb er dort bis<br />

1933, dann Emigration nach England. Wirkte als Gastprofessor in Oxford. 1945 ließ er sich in Kanada nieder.<br />

119 Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 466.<br />

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