Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz
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Reformen nicht voran kommen. Dazu gehört auch, dass die jüdische Minderheit in Ungarn zwar 1867 formal gleichgestellt, die jüdische Religion aber erst 1895 anerkannt wird. Bis dahin sind Ehen zwischen Juden und Christen nur bei Konversion eines (und damit in der Regel des jüdischen) Partners erlaubt. 108 Die politische Wirklichkeit Ungarn stagniert zunehmend, gelähmt zwischen den neuerworbenen Privilegien und Chancen der ungarischen Eliten innerhalb der Doppelmonarchie und den sozialen und kulturellen, sich freilich national artikulierenden Ansprüchen der Minderheiten. Ein selbstbewusstes Bürgertum entsteht kaum und wird durch Verleihung von Adelstiteln in effektiver Weise absorbiert. Dies gilt auch für eine größere Zahl von jüdischen Fabrikanten, Bankiers, Gutsbesitzern und Erzeugern landwirtschaftlicher Produkte (z.B. Zucker). 109 Die Gentry, der Landadel, der seinen Landbesitz meist verloren hat, aber seinen Lebensstil fortsetzt, wird ökonomisch vom Staat abhängig, besetzt viele der in der Bürokratie zu vergebenen Positionen und sieht sich schließlich selbst als die wahre Stütze der Nation und ihrer Identität. In scharfer Abgrenzung gegenüber der Entwicklung des Handels und der Banken, die die wirtschaftliche Prosperität erst ermöglichen, zunehmend auch gegen das ungarische Judentum, erweist sich gerade die Gentry als Hemmnis für jede wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung. „Daß sich“, wie Hellenbart schreibt, „das fremdblütige Bürgertum aus politischem und gesellschaftlichem Konformismus betont patriotisch gebärdete, die Landesprache mit Eifer (aber 107 Ignotus, „Tisza István és a nemzetiségi kérdés“ [István Tis za und die Nationalitätenfrage], in: Nyugat, Bd. 2 (1910), S. 1025ff. Zitiert nach Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 449. 108 Die Anerkennung der jüdischen Religion scheiterte freilich auch an innerjüdischer Uneinigkeit darüber, in welcher Form die jüdische Religion staatlich sanktioniert werden sollte. 109 Bis 1918 waren 346 jüdische Familien in Ungarn mit Adelsprädiakten versehen. Die allgemeine Krise des ungarischen Bürgertums zum Beginn des Jahrhunderts hatte für seine jüdischen Angehörigen eine besondere Dramatik. William O. McCagg Jr. beschreibt in seinem Buch über Jewish Nobles and Genuises in Modern Hungary minutiös den sozialen Prozess, der den aufstrebenden Teil des jüdischen Großbürgertums in die traditionelle Ordnung integrierte. Während diese Generation die neue städtische Entwicklung ökonomisch mit der Wertorientierung des westlichen Rationalismus verband, blieb ihr zugleich politisch und kulturell nur der Weg eines demonstrativ magyarisierenden Traditionalismus. Die nachfolgende Generation hingegen stand aus verschiedenen Gründen vor einer aussichtlosen Situation. „By the end of the nineteenth century and in the first years of the twentieth, as the crisis of European civilization erupted, the energies of the new urban and industrial Hungary reached an impasse. Externally the mobilization was crowned with success. [...] But beneath the surface there was a closing of horizons. [...] Hungary after 1906 was for young men of the urban mobilized society increasingly a seeming dead-end.“ (S. 224f.) Dies galt nicht nur für berufliche und ökonomische Chancen, die in kurzer Zeit knapp wurden, sondern auch für eine immer fragwürdiger werdende großbürgerliche Kultur, die als bigott und oberflächlich, als entfremdet empfunden wurde. Dazu kamen wachsende Zweifel am Erfolg der Assimilation, das heißt der Integrationsbereitschaft der ungarischen Gesellschaft und ihrer Eliten. Die geweckte Energie strömte, wie McCagg am Beispiel vieler Familien beschreibt, entweder in Emigration oder in Sublimierung, das heißt in eine ungeahnte intellektuelle Entwicklung, jenes Phänomen einer erklärungsbedürftig großen Zahl von „Genies“ in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen, die innerhalb einer Generation aufblühten. Vgl. dazu auch die ersten Kapitel von Mary Gluck, Georg Lukács and his Generation. Cambridge, Massachusetts/London: Harvard University Press, 1985. 44
nicht immer gut genug) erlernte und die Namen magyarisierte, konnte seine Desintegriertheit im traditionellen Gefüge des Landes nur notdürftig verhüllen.“ 110 Die von Hellenbart gemeinten deutschen und jüdischen Neu-Ungarn spielten bei der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Zu den geadelten jüdischen Bürgern gehörte auch Georg Lukács’ Vater, József Löwinger, der sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen hochgearbeitet und seinen Namen magyarisiert hatte und als Bankdirektor 1899 in den Adelsstand erhoben wurde. 111 Aus einer schon in der zweiten Generation geadelten Familie stammte Anna Lesznai 112 , die gemeinsame Freundin von Béla Balázs und Georg Lukács, die in zweiter Ehe mit Oskar Jászi verheiratet war. Ihr Vater, Gejza Moskowitz, hatte sich aus Wien, wo er als persönlicher Sekretär von Reichskanzler Andrássy gearbeitet hatte, auf ein Landgut zurückgezogen. Dort schloss er sich der ungarisch-nationalistischen Opposition, den geistigen Haltungen der Gentry an und lebte das Leben eines ungarischen Landadligen. 1868 wurde in Budapest die erste Allgemeine Arbeiter Association gegründet. 113 1890 kommt es zur Gründung der ungarischen sozialdemokratischen Partei, die nur über eine schmale Basis verfügt: städtische Arbeiter und in Teilen der Provinz auch deutsche Einwanderer. Die Partei bleibt im wesentlichen an der Oberfläche der gewerkschaftlichen, an den Betrieben orientierten Strukturen und tritt programmatisch kaum hervor. Bis 1903 verzichtet sie ganz darauf ein eigenes Programm zu verabschieden und übernimmt das Programm der österreichischen Sozialdemokratie. Erst 1907, dann wieder 1912 und 1913 unternimmt die Partei Anläufe zu einer landesweiten Mobilisierung, im Kampf um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, das 1907 zwar in Österreich tatsächlich gewährt, gleichwohl in Ungarn nach wie vor verweigert wird. Drei Versuche, das Wahlrecht durch nationale Streiks zu erzwingen, scheitern, nicht zuletzt am zögerlichen Vorgehen der Sozialdemokraten selbst und dem Mangel an Bündnispartnern, insbesondere unter der Bauernschaft 110 Hellenbart, König Midas, S. 34. 111 Vgl. zur Geschichte der Familie Lukács den Aufsatz von Júlia Bendl, „Herkunft eines Philosophen“, in: Hungarian Studies, Vol. 5, Nr. 1 (1989), S. 75-90. 112 Anna Lesznai (1885-1966), geb. als Amália Moskowitz, Kunsthandwerkerin, Schriftstellerin und Malerin, stellte zusammen mit der Gruppe der „Nyolcak“ [Die Acht] aus und veröffentlichte Gedichte im Nyugat. 1913-1920 in zweiter Ehe mit Oskar Jászi verheiratet. 1919 Emigration nach Wien, dort Heirat mit dem Grafiker Tibor Gergely. 1939 Emigration nach New York. Ihre Biographie Kezdetben volt a kert (Am Anfang war der Garten. Deutsche Ausgabe: Spätherbst in Eden. Karlsruhe: Stahlberg, 1965) beschreibt nicht nur die intellektuelle Szene der Jahre vor und während des 1. Weltkrieges, sondern auch die „Gärten“ ihrer Herkunft, die verwunschene Zauberwelt des Landguts ihres Vaters. 113 Zur Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung siehe Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 1-23, sowie Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 137-151. Zur Bauernbewegung siehe ebenda S. 105-116. 45
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deutschen und jüdischen Neu-Ungarn spielten bei der gesellschaftlichen und ökonomischen<br />
Entwicklung Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Zu den<br />
geadelten jüdischen Bürgern gehörte auch Georg Lukács’ Vater, József Löwinger, der sich aus<br />
kleinbürgerlichen Verhältnissen hochgearbeitet und seinen N<strong>am</strong>en magyarisiert hatte und als<br />
Bankdirektor 1899 in den Adelsstand erhoben wurde. 111 Aus einer schon in der zweiten Generation<br />
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Lukács, die in zweiter Ehe mit Oskar Jászi verheiratet war. Ihr Vater, Gejza Moskowitz, hatte sich<br />
aus Wien, wo er als persönlicher Sekretär von Reichskanzler Andrássy gearbeitet hatte, auf ein<br />
Landgut zurückgezogen. Dort schloss er sich der ungarisch-nationalistischen Opposition, den<br />
geistigen Haltungen der Gentry an und lebte das Leben eines ungarischen Landadligen.<br />
1868 wurde in Budapest die erste Allgemeine Arbeiter Association gegründet. 113 1890 kommt es zur<br />
Gründung der ungarischen sozialdemokratischen Partei, die nur über eine schmale Basis verfügt:<br />
städtische Arbeiter und in Teilen der Provinz auch deutsche Einwanderer. Die Partei bleibt im<br />
wesentlichen an der Oberfläche der gewerkschaftlichen, an den Betrieben orientierten Strukturen und<br />
tritt progr<strong>am</strong>matisch kaum hervor. Bis 1903 verzichtet sie ganz darauf ein eigenes Progr<strong>am</strong>m zu<br />
verabschieden und übernimmt das Progr<strong>am</strong>m der österreichischen Sozialdemokratie. Erst 1907,<br />
dann wieder 1912 und 1913 unternimmt die Partei Anläufe zu einer landesweiten Mobilisierung, im<br />
K<strong>am</strong>pf um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, das 1907 zwar in Österreich tatsächlich<br />
gewährt, gleichwohl in Ungarn nach wie vor verweigert wird. Drei Versuche, das Wahlrecht durch<br />
nationale Streiks zu erzwingen, scheitern, nicht zuletzt <strong>am</strong> zögerlichen Vorgehen der<br />
Sozialdemokraten selbst und dem Mangel an Bündnispartnern, insbesondere unter der Bauernschaft<br />
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Hellenbart, König Midas, S. 34.<br />
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Vgl. zur Geschichte der F<strong>am</strong>ilie Lukács den Aufsatz von Júlia Bendl, „Herkunft eines Philosophen“, in:<br />
Hungarian Studies, Vol. 5, Nr. 1 (1989), S. 75-90.<br />
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Anna Lesznai (1885-1966), geb. als Amália Moskowitz, Kunsthandwerkerin, Schriftstellerin und Malerin, stellte<br />
zus<strong>am</strong>men mit der Gruppe der „Nyolcak“ [Die Acht] aus und veröffentlichte Gedichte im Nyugat. 1913-1920 in<br />
zweiter Ehe mit Oskar Jászi verheiratet. 1919 Emigration nach Wien, dort Heirat mit dem Grafiker Tibor Gergely.<br />
1939 Emigration nach New York. Ihre Biographie Kezdetben volt a kert (Am Anfang war der Garten. Deutsche<br />
Ausgabe: Spätherbst in Eden. Karlsruhe: Stahlberg, 1965) beschreibt nicht nur die intellektuelle Szene der Jahre<br />
vor und während des 1. Weltkrieges, sondern auch die „Gärten“ ihrer Herkunft, die verwunschene Zauberwelt des<br />
Landguts ihres Vaters.<br />
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Zur Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung siehe Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet<br />
Republic, S. 1-23, sowie Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 137-151. Zur Bauernbewegung siehe<br />
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