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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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waren und politisch auf eine Demokratisierung und Liberalisierung der ungarischen Gesellschaft<br />

setzten. Auch diejenigen, die in unterschiedlicher Form auf die Neuentdeckung eines „andern, tiefer<br />

verwurzelten, unverbrauchten Ungartums [...], Weltungartums“ 100 hofften, wie Ady, Kodály oder<br />

Bartók, fanden bis 1918 kaum ein anderes kulturelles Forum ihrer Ideen als den Nyugat.<br />

Auch Balázs hatte die bigotte und heuchlerische Tradition der konservativen ungarischen<br />

„Volkstümlichkeit“ beklagt und mit der sozialen Frage, der unbalancierten ungarischen Entwicklung in<br />

Verbindung gebracht. Schon 1903 notiert der neunzehnjährige in seinem Tagebuch:<br />

„Warum haben wir kein Bürgertum? Warum ist die Kluft zwischen Landvolk und gebildetem<br />

Publikum so groß? Warum hat die Sprache, der Geist des Publikums in unseren Städten keinen<br />

magyarischen, im Volkstümlichen wurzelnden nationalen Charakter? Wir hindern das Volk in seiner<br />

Entwicklung zum Bürgertum, sind ängstlich bestrebt, daß es seine urtümlichen, noch aus Asien<br />

mitgebrachten Eigenheiten bewahre - wir zwingen es zum Konservativismus. Es gefällt uns, wir geben<br />

mit dem Volk an, bei den anderen Völkern, wie mit einer musealen Rarität. Es soll den nationalen ur-<br />

magyarischen Geist bewahren - wir selbst fürchten uns davor.“ 101<br />

Ohne hier ein ausführliches Bild der Situation Ungarns zur Jahrhundertwende zeichnen zu können,<br />

sollen einige Besonderheiten der ungarischen gesellschaftlichen Entwicklung benannt werden, die das<br />

Koordinatensystem der hier angedeuteten kulturellen Aufbruchsbewegungen bilden. 102<br />

1849 waren die ungarischen Aufständischen, die einen ungarischen Nationalstaat erkämpfen wollten,<br />

den vereinigten österreichischen und russischen Armeen unterlegen. Doch Österreichs Niederlagen<br />

gegen Frankreich 1859 und gegen Preußen und Italien 1866 machen eine Verständigung mit den<br />

Ungarn nach Jahren der Gewaltherrschaft unausweichlich. 1867 kommt es zum Ausgleich zwischen<br />

den Habsburgern und den herrschenden Klassen Ungarns, insbesondere dem Adel. Franz Joseph I.<br />

beherrscht ist, daß er dieses Land verläßt.“ (Ignotus, „A magyar kultura es a nemzetisegek“ [1908], in: ders.,<br />

Valogatott irasai [Ausgewählte Schriften], Budapest: Szépirodalmi Könyvkiado, 1969, S. 617-618)<br />

100 So Zoltán Kodály in seiner überschwenglichen Kritik der Erstaufführung von Herzog Blaubarts Burg, die 1918<br />

endlich in Budapest stattfand. „Die jungfräuliche reine Luft eines andern, tiefer verwurzelten, unverbrauchten<br />

Ungartums strömt aus der neuen ungarischen Musik. Sie ist wie der Hauch der Fichtenwälder im Szeklerland, in<br />

denen verborgen etwas davon übrigblieb, was einst ein das ganze Land durchströmender, monumentaler<br />

Lebensfluß war. [...] Das ist nicht mehr die sentimentale Zügellosigkeit der Gentry, [...], nicht Kukurutzentrauer, mit<br />

einem Wort: kein Stück-, kein Teil-Ungartum, sondern alles zus<strong>am</strong>men, ein vielschichtiges, tieftragisches<br />

Weltungartum.“ (Nyugat, 1.6.1918, S. 937ff. Zitiert nach Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 383)<br />

101 Balázs, Napló 1903-1914, S. 7, Eintrag vom 25.11.1903.<br />

102 Über das hier gesagte hinaus sei auf das schon zitierte monumentale Geschichtswerk von Zoltán Horváth, Die<br />

Jahrhundertwende in Ungarn verwiesen. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der ungarischen<br />

Räterepublik siehe Rudolf L. Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic. The Origins and Role of the<br />

Communist Party of Hungary in the Revolution of 1918-1919. New York/London: Frederick A. Praeger/Pall Mall<br />

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