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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Die Redaktionssitzung der Internationalen Literatur <strong>am</strong> 13. Januar 1940 endet für Balázs in einem<br />

Fiasko. Für die deutsche Sektion der Komintern nimmt Herbert Wehner (alias Kurt Funk) an der<br />

Sitzung teil. Man befürchtet offenbar, dass Balázs’ Aufsatz Wasser auf die Mühlen einer<br />

stalinistischen Abrechnung mit den deutschen Genossen sein könnte, die nun, im Zeichen des Hitler-<br />

Stalin-Paktes, kein strategischer Gewinn, sondern eher eine Belastung geworden sind. Ja man<br />

fürchtet, dass Balázs gezielt Bündnisse mit Lukács’ Gegnern suchen könnte, die für die ges<strong>am</strong>te<br />

deutsche Emigrantenszene zur Gefahr werden könnten. Lukács’ Theorien über den bürgerlichen<br />

Roman und die dort antizipierte Totalität einer zukünftigen Gesellschaft waren vielleicht eine<br />

willkommene Begleitmusik für die stalinistischen Volksfrontstrategien 1935-38 gewesen - Anfang<br />

1940 waren sie von eher zweifelhaftem politischen Gebrauchswert. Ein Streit über Lukács’<br />

Literaturtheorie konnte, wer weiß, ein Erdbeben auslösen.<br />

Balázs behauptet, nichts davon zu wissen, dass sich mittlerweile gegen die von Lukács und Mikhail<br />

Lifschitz propagierte „Volkstümlichkeit“ des historischen Romans - der großen Epik eines auf<br />

„humanistische“ Totalität gerichteten Realismus - in sowjetischen Zeitschriften eine gefährliche Front<br />

zus<strong>am</strong>menbraut. Lukács und Lifschitz hatten gegen die von ihnen so apostrophierte<br />

„Vulgärsoziologie“ darauf beharrt, dass die literarischen Verdienste großer Autoren durchaus auch<br />

mit „ideologischen Schwächen“ verbunden, ja von ihnen befördert sein könnten - so <strong>am</strong> Beispiel<br />

Honoré de Balzacs, Thomas Manns oder Joseph Roths, deren innere Widersprüchlichkeit ihnen<br />

auch tiefere Einblicke in die Realität erlaubt hätten. Die Größe der Literatur bestimmte Lukács nach<br />

der Spanne der episch bewältigten Widersprüche, und es fällt nicht schwer, dahinter eine<br />

unwillkürliche Strategie der Bewältigung der eigenen intellektuellen Biographie zu erblicken. Für das<br />

Fragment und den Versuch, das Unvollständige und das Zerrissene, das Nicht-Bewältigte, im<br />

Grunde auch für die „unendliche“ Form des Märchens ist hier kein Ort mehr - und für die offenen<br />

Formen der Novelle oder des Films allenfalls ein Platz in der zweiten Reihe.<br />

Doch nun wurden Lukács und Lifschitz als „Vulgärhumanisten“ und als „Ideologen der Dekadenz“<br />

beschimpft. Mit anderen Worten: Lukács begann ins Fadenkreuz einer stalinistischen<br />

Literaturdebatte sui generis zu geraten, die seine eigene Doktrin der objektiven Widerspiegelung der<br />

Realität durch die Kunst mühelos überbot und zwischen Kunst und „marxistisch“ deduziertem<br />

Fortschritt überhaupt keinen Widerspruch mehr gelten ließ. 46 Angriffe auf Lukács’ Begriff des<br />

Realismus, egal woher sie k<strong>am</strong>en, konnten vor diesem Hintergrund jederzeit auch als Munition dafür<br />

verwendet werden, ihm Mangel an Parteilichkeit und Eindeutigkeit vorzuwerfen.<br />

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