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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Gültigkeitsunterschied gab es dabei nicht für mich. Halluzinationen stellten sich wie Dinge unter die<br />

Dinge, und Wirkliches schaute ich mit dem Schauer des Traums.“ 36<br />

Balázs beginnt seine Autobiographie mit einer Reflexion über die Wahrnehmung von Zeit und Raum,<br />

die er, ganz lebensphilosophisch, unmittelbar Bergson entlehnt. „Längst Vergessenes steigt aus dem<br />

Nebel, heraufgeholt durch das Gesetz der Melodie, die, als ein Ganzes gegenwärtig, sich im letzten<br />

Ton auf den ersten bezieht. Längst Verklungenes wird wach kraft der folgerichtigen Zugehörigkeit zu<br />

dem organisch sinnvollen Gebilde: dem Lied des Lebens. Blicke ich zurück, so sehe ich die<br />

Ereignisse meiner Vergangenheit räumlich. [...] Diese räumliche Vorstellung der Zeit blieb mir bis zum<br />

heutigen Tag. Nein, nichts, was gewesen ist, vergeht. Ich selbst vergehe, verreise. Die Geschehnisse<br />

aber bleiben wie Städte, die man für immer verlassen hat. Sie sind gar nicht weit weg und werden<br />

zuweilen sichtbar wie von einer Bergeshöhe im selts<strong>am</strong>en Abendsonnenlicht. Und zuweilen hört man<br />

sie wie ein leises Gespräch verstorbener Freunde, die auf Wiederkehr warten.“ 37<br />

Balázs hatte, auf ähnliche Weise Bergson interpretierend, schon 1916 die Erinnerung und die Zeit als<br />

einen Raum beschrieben, als eine Dauer, in der alles Geschehene geborgen bleibt und einander<br />

wiederbegegnen kann. Es wird noch zu zeigen sein, welcher Begriff von „Fortschritt“, von<br />

„Entwicklung“ allenfalls auf solcher „Erfahrung“ beruhen kann, die nur eine Bewegung im Raum<br />

kennt, ein wachsendes Bewusstsein dessen, was uns umgibt, aber nichts „neues“ gelten lässt, was<br />

aus dem Verschwinden des „alten“ resultieren könnte. Balázs’ eigene Reflexion bewegt sich, hält<br />

man die beiden Zitate aus so unterschiedlicher Zeit nebeneinander, in einer kreisförmigen Suche nach<br />

Einheit und Verschmelzung. Zum ersten Mal erwähnt Balázs an dieser Stelle auch den Film, oder<br />

jedenfalls jenen von Bergson beschriebenen „kinematographischen Mechanismus des Denkens“,<br />

freilich auf eigene Weise eingefärbt:<br />

„Ob Ereignisse, Situationen nicht auch eine Seele hätten, die ebenso nicht vergeht, wie die der<br />

Menschen, und die, nachdem sie vergangen sind, wiederkehren? Wird aus einem Ereignis, aus einer<br />

Szene nicht ein anderes, eine andere? Sie reihen sich aneinander, wie ewig unbewegliche, ihre Seele<br />

wahrende Bilder (wie im Film), und hinter mir sind die Ereignisse der Vergangenheit auch noch da,<br />

36 Ebd., S. 24f. Über die Frage der „Geltung“ metaphysischer Erlebnisse hatte er schon 1915 mit Lukács debattiert.<br />

Im Tagebuch heißt es <strong>am</strong> 22.1.1916: „Gyuri pflegt zu sagen, seine große Entdeckung sei, dass die metaphysischen<br />

Tatsachen nicht der Geltungssphäre angehören. Diese ist ‘Sein’.“ (Balázs, Napló 1914-1922, S. 126f.) Während<br />

Lukács sich d<strong>am</strong>it einer Ontologie jenseits des Kantischen Kritizismus anzunähern beginnt, entwirft Balázs eine<br />

Homogenität, die, ob ihm dies bewusst ist oder nicht, die Kritik an den Sätzen über das Sein auch auf die<br />

metaphysische Welt ausdehnt.<br />

37 Balázs, Die Jugend eines Träumers, S. 7; S. 15.<br />

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