12.12.2012 Aufrufe

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Vergessenes steigt aus dem Nebel, heraufgeholt durch das Gesetz der Melodie, die, als ein Ganzes<br />

gegenwärtig, sich im letzten Ton auf den ersten bezieht.“ 150<br />

Die Melodie greift durch die Zeit und verschmilzt sie zur Dauer des Werdens. Georg Simmel sah in<br />

diesem „kontinuierlichen Werden“ den Kern des Phänomens der „durée“, „denn nur in<br />

fortwährendem Anderswerden können Dinge dauern, weil bei wirklich ungeändertem Beharren ja<br />

der Anfang und das Ende dieses Zustandes nicht zu unterscheiden wären, also zus<strong>am</strong>menfallen<br />

müßten“. 151 Wir hätten es dann mit Punkten in einem homogenen Medium zu tun, „worin unsere<br />

Bewußtseinsvorgänge sich aufreihen, sich nebeneinander ordnen wie im Raume“. 152 Der Raum, den<br />

Bergson meint, ist freilich der Raum bloßer Leere, qualitätslose Homogenität, in der wir die Elemente<br />

der Dauer ausbreiten müssen, wenn wir sie als unterschiedene Punkte einer linearen Reihe zu<br />

betrachten versuchen: „[T]rennen wir diese Momente von einander, entfalten wir die Zeit im Raum,<br />

so nehmen wir d<strong>am</strong>it dem Gefühl seine Lebendigkeit.“ 153 Zeit als homogenes Medium sei dann nichts<br />

weiter als eine vierte Dimension des Raumes. Doch so wie Lévy-Bruhl für das magische Denken<br />

feststellt, dass ihm dieser von Bergson beschriebene Weg der Homogenisierung der „Dauer“ in einen<br />

homogen gedachten Raum hinein verwehrt sei, so bleibt auch für Balázs die „Dauer“ notwendig an<br />

einen Zeit-Raum der Qualitäten gebunden: physiognomische Zeit und physiognomischer Raum. Der<br />

Film organisiert eine Reise in eine Welt magischer Verwobenheit, in eine andere Zeit, die keine<br />

Sekunden 154 und keine Stunden, in einen Raum, der keine Punkte, sondern nur bedeutungsvolle Orte<br />

kennt. Der Weg dorthin aber führt für Balázs durch die Physiognomie des menschlichen Gesichts:<br />

„Dem Gesicht gegenüber befinden wir uns nicht mehr im Raum. Eine neue Dimension öffnet sich uns:<br />

die Physiognomie.“ 155 Wie die Melodie sich zur Zeit verhalte, so verhalte sich auch die<br />

Physiognomie zum Raume. „Die Ausdrucksmuskeln des Gesichts liegen wohl räumlich<br />

nebeneinander. Aber ihre Beziehung macht den Ausdruck. Diese Beziehung hat keine Ausdehnung<br />

und keine Richtung im Raum.“ 156 So ist die physiognomische Totalität selbst eine ideale Raumwelt, in<br />

150<br />

Balázs, Die Jugend eines Träumers, S. 7.<br />

151<br />

Simmel, „Bergson“, S. 142.<br />

152<br />

Bergson, Zeit und Freiheit, S. 71.<br />

153<br />

Ebd., S. 104.<br />

154<br />

In einem kleinen Feuilleton über die „Sekunde“ schreibt Balázs: „Und so erfuhr ich das Geheimnis. Dass<br />

nämlich mehr Dinge in der Welt vorhanden sind, als darin Platz haben. Durch dieses unmögliche Dickicht hilft uns<br />

eben nur unsere Blindheit hindurch.“ (Béla Balázs, „Die Sekunde“, Typoskript, in: Balázs -Nachlass, MTA, Ms<br />

5014/153.)<br />

155<br />

Balázs, „Der Geist des Films“, S. 58<br />

156<br />

Ebd., S. 58f. Zunächst versucht Balázs im Gesicht des Schauspielers ein „unsichtbares Antlitz“ zu identifizieren<br />

(Béla Balázs, „Das unsichtbare Antlitz“, in: ders., Schriften zum Film. Band 1, S. 357 [zuerst in: Die Filmtechnik,<br />

20.1.1926]), ohne dass er zu sagen vermöchte, welche Linie es ist, „die das mysteriöse Lebendige enthält“ (ebd., S.<br />

358).<br />

405

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!