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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Nein, nichts, was gewesen ist, vergeht. Ich selbst vergehe, verreise. Die Geschehnisse aber bleiben<br />

wie Städte, die man für immer verlassen hat. [...] Und zuweilen hört man sie wie ein leises Gespräch<br />

verstorbener Freunde, die auf Wiederkehr warten.“ 130 Und so gehört zu den wesentlichen<br />

Entdeckungen des sichtbaren Menschen auch die Zeitempfindung, die der Film hervorruft: durch die<br />

Montage der Bilder, den Rhytmus der Bewegung durch den Raum. Das Vergehen der Zeit im Film<br />

ist 1924 für Balázs eine Folge räumlicher Symbolisierungen, so wie er schon 1907 in der<br />

Todesästhetik von einer möglichen und noch zu kultivierenden „Zeit-Perspektive“ des<br />

Bühnengeschehens gesprochen hatte. Die objektive Dauer der Sequenzen und Schnitte sagt wenig<br />

über den zeitlichen Eindruck, den sie hinterlassen, eher schon der Handlungsrhytmus einer Szene,<br />

oder „der Raum, in dem sie sich abspielt“. 131 Vor allem aber entscheidet die Bewegung der<br />

Montage, das Verhältnis der Räume und Perspektiven zueinander, welche Zeitempfindung entsteht.<br />

So beobachtet Balázs, dass, „je entfernter der Ort der Zwischenszene von dem der Hauptszene liegt,<br />

eine umso längere Zeitillusion in uns geweckt wird“. 132 Passagen, Parallelhandlung und Bildrefrain<br />

sind Möglichkeiten, die filmische Zeit nach Belieben zu manipulieren. Erst recht die prononcierteren<br />

Verfahren der Montage, die Balázs vor allem in Berlin und in der Konfrontation mit den russischen<br />

Filmen kennenlernt, lösen die lineare Zeit weiter auf, vermögen sie zu raffen und, wie Balázs<br />

anschaulich beschreibt, auch in Großaufnahme zu zeigen, in tödlicher Spannung zu zerdehnen oder<br />

ihre innere Bewegtheit als Bilderwirbel darzustellen. Balázs sieht darin, anders als Benj<strong>am</strong>in, eher<br />

eine kompensatorische Funktion gegenüber dem Chok-Erlebnis der städtischen Lebenswirklichkeit.<br />

„Unsere schnellen Verkehrsmittel haben den Raum gefressen und ihn zur Zeit verdaut. Unser Leben<br />

ist abstrakter, wir sind um eine Dimension ärmer geworden. (Und zwar mit der solideren. Denn die<br />

Zeit ist nicht geheuer.)“ 133<br />

Balázs sieht sich in den Bildern des Filmes neugierig um, und wonach er sucht, ist nicht nur ein neues<br />

Ausdrucksmedium. „In Der sichtbare Mensch umkreist Balázs unablässig diesen ‘Raum’, wenn er<br />

in immer neuen Varianten die Grundlagen kinematografischer Gestaltungsformen in der zeitlichen<br />

Struktur des Filmbilds zu fassen sucht.“ 134 Immer wieder unternimmt er Anläufe dazu, sie als<br />

130<br />

Ebd.<br />

131<br />

Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 118.<br />

132<br />

Ebd.<br />

133<br />

Balázs, Der Phantasie-Reiseführer, S. 98f.<br />

134<br />

Hermann Kappelhoff, „Empfindungsbilder - Subjektivierte Zeit im melodr<strong>am</strong>atischen Film“, in: Theresia<br />

Birkenhauer/Annette Storr (Hg.), Zeitlichkeiten - Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei,<br />

Literatur. Berlin: Vorwerk 8, 1998, S. 117.<br />

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