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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Kunsterlebnis an vielen Stellen derart fühlbar, daß man glauben kann, in diesem eine späte<br />

Entwicklungsform jener Frühwelt vor sich zu haben.“ 142<br />

Offener noch als Balázs, und von diesem vermutlich kaum rezipiert, postulierte zu gleicher Zeit Jean<br />

Epstein eine animistische Tendenz des Films, die er als das Wesen der Photogénie ausmacht. „Nur<br />

die beweglichen und persönlichen Aspekte der Dinge, der Wesen und der Seelen können photogen<br />

sein, das heißt durch die filmische Reproduktion einen höheren moralischen Wert erwerben.“ 143 Nur<br />

was sich bewegt, sich in Raum und Zeit verändert, nur was „lebt“ sei filmisch, und umgekehrt: „Diese<br />

Leben, die die K<strong>am</strong>era schafft, indem sie die Gegenstände aus dem Schatten der Gleichgültigkeit ins<br />

Licht des dr<strong>am</strong>atischen Interesses rückt, diese Leben [...] ähneln dem Leben der Amulette, der<br />

grigris, der drohenden und tabuisierten Gegenstände bestimmter primitiver Religionen. Ich glaube,<br />

wenn man verstehen will, wie ein Tier, eine Pflanze oder ein Stein die drei grundsätzlich geheiligten<br />

Gefühle - Respekt, Furcht oder Schrecken - auslösen können, muss man sie auf der Leinwand leben<br />

sehen.“ 144 Und Luis Buñuel folgte ihm darin: „Schweigend wie ein Paradies, animistisch und vital wie<br />

eine Religion, belebt der wundertätige Blick der K<strong>am</strong>era die Wesen und die Dinge. ‘Auf der<br />

Leinwand gibt es keine Stilleben. Die Gegenstände haben Verhaltensweisen’, hat Jean Epstein<br />

gesagt, der als erster auf diese psychoanalytische Eigenschaft der K<strong>am</strong>era hingewiesen hat. Die<br />

Großaufnahme von Greta Garbo ist nicht interessanter als die irgendeines Gegenstandes,<br />

vorausgesetzt, daß dieser etwas im Ablauf des Geschehens bedeutet oder definiert.“ 145<br />

Balázs siedelt seine Magie nicht in fernen Erdteilen, „primitiven“ Kulturen oder einer vergangenen<br />

„Frühwelt“ an, sondern inmitten unserer Kultur, im verborgenen, unter Rationalität begrabenen aber<br />

dennoch wirks<strong>am</strong>en Fortleben der Kindheit. Der kindliche Blick, der „die Dinge noch nicht<br />

ausschließlich als Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, Mittel zum Zweck ansieht“ 146 , der in jedem<br />

Ding ein autonomes Lebewesen erblickt, das seine eigene Seele, sein eigenes Gesichts hat: „die<br />

unheimlich-deutlichen Gebärden der schwarzen Bäume im nächtlichen Wald“ 147 , die „Maschine, die<br />

menschenfressende Maschine, [die] die dämonische Lebendigkeit eines gespenstischen Ungeheuers<br />

142<br />

Musil, „Ansätze zu einer neuen Ästhetik“, S. 1141.<br />

143<br />

Jean Epstein, „De quelques conditions de la Photogénie“, in: ders., Écrits sur le cinéma. Paris 1974, S. 140<br />

[zitiert nach Wuss, Kunstwert des Films, S. 115].<br />

144<br />

Jean Epstein, Le Cinématograph vu de l’Etna. Paris: Ecrivains Réunis, 1926, S. 17 [zitiert nach einer<br />

Übersetzung von Carlos Rincón].<br />

145 Luis Buñuel, „Über die Großaufnahme“, S. 101.<br />

146 Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 92.<br />

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