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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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von der Form, sondern vom Ausdruck aus“ 113 , von der Erkenntnis, dass allenfalls in den<br />

„Übergängen, in den Zwischenräumen, im Differentiellen“ 114 Ausdruck und Bedeutung des Gesichts<br />

zu finden sei. Es ginge darum, die Dinge in der Bewegung zu sehen, sich zwischen sie zu drängen,<br />

„den Blick in die Ritzen, Fugen und Nähte der Dinge [zu] klemmen“. 115 Die Physiognomik verzichte<br />

darauf, anders als die Morphologie, die Wesen und Dinge zu sezieren, in sie einzudringen, ihren Leib<br />

aufzureißen. Sie suche nicht nach kausalen Ursachen, nach Prozessen der Entwicklung, des Werdens<br />

und Wandelns, sondern nach der Korrespondenz der Gestalt, so wie die Scholle dem breiten Meer<br />

und der Aal dem Fluss gleiche. Sie handelt „vom Sein der Gestalt, vom Rhytmus, vom Ineinandersein<br />

der Wesen, von der All-Einheit.“ 116 Kassners Physiognomie ist Versuch der Rückkehr zu einer<br />

magischen Weltschau, in den Kategorien Frazers: einer Welt der sympathetischen Riten. 117<br />

Physiognomie ist so verstanden „die Morphologie einer also ein-gebildeten Welt“. 118 Sie gibt sich mit<br />

Bildern zufrieden, die umeinander kreisen. In der Welt des Physiognomikers sei das „Abbild so<br />

wirklich [...] wie das Urbild und das Urbild so eingebildet wie das Abbild“. 119 Die Individualität der<br />

Erscheinungen ist nicht letzter Gegenstand sondern lediglich Ausgangspunkt zu einer mystischen<br />

Wesensschau: „[D]as ist die Identitätswelt, Magie, Reich des Raumes.“ 120 Kassners Physiognomik<br />

kreist um die Vorstellung einer magischen Einheit von Wesen und Dingen, eine Welt von<br />

Emanationen, von Verwandlungen. 121 Hinter diesem Spiel der wandelbaren Formen aber „erschaut“<br />

Kassner zugleich transzendente Wesenheiten, die keineswegs ineinander übergehen könnten und als<br />

deren Paradebeispiel nennt Kassner immer wieder „das germanische“ und „das jüdische“. 122 So baut<br />

seine Physiognomie auf eine voluntaristische Setzung. Die Wesenheiten entziehen sich jeder<br />

Begründung, sie erschließen sich keiner Analyse individueller Elemente, sondern nur einer magischen<br />

Schau symbolischer Gestalten, sie können jede Form annehmen und Kassner vermag sie dennoch zu<br />

erkennen. Kassners magische Raumwelt der Verwandlung findet ihre Vollendung in der<br />

„Identitätswelt der Märchen, in einer Welt ohne die Disjunktion von Begriff und Idee, von Außen<br />

113<br />

Ebd., S. 24.<br />

114<br />

Ebd., S. 80.<br />

115<br />

Ebd.<br />

116<br />

Ebd., S. 77.<br />

117<br />

Und Kassner zitiert Frazers Beispiel der Anrufung des Vollmondes, von dem „die Neger <strong>am</strong> Kongo“ (ebd., S.<br />

41) sich die Erneuerung ihrer Seele versprechen.<br />

118 Ebd., S. 99.<br />

119 Ebd., S. 100.<br />

120 Ebd., S. 29.<br />

121 Dostojewkis Gestalten beispielsweise gelten ihm als untrennbar miteinander verbundene Materialisationen<br />

desselben Geistes. „Wer vermöchte unter sie zu treten und den einen vom anderen zu trennen, den Sohn vom<br />

Vater, den heiligen Idioten Myschkin vom Mörder Rogoschin?“ (Ebd., S. 91)<br />

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