12.12.2012 Aufrufe

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Anthropomorphismus, der auf die Ges<strong>am</strong>theit der Wesen und Dinge zielt, sprengt freilich die<br />

Formen, artikuliert die Sehnsucht danach, „dass die Emotion Kraft und nicht Form bedeutet“. 87<br />

Auch von „Physiognomie“ ist in Balázs’ Tagebuch schon früh die Rede. Von einer systematischen<br />

Beschäftigung mit dem Begriff der Physiognomie, z.B. bei Lavater, bzw. Goethes Beiträgen zu<br />

Lavaters physiognomischen Fragmenten, die er im sichtbaren Menschen 88 ins Felde führen wird,<br />

gar einem Glauben „an die wissenschaftlichen Möglichkeiten der Physiognomik“ 89 ist hingegen kaum<br />

die Rede. Stattdessen spricht Balázs von „Panphysiognomie“ und postuliert das physiognomische<br />

Sehen als Existenzform, als ein Medium der „Ganzheitlichkeit“ 90 : „Physiognomie zu sehen ist eine<br />

zwingende Lebensform.“ 91<br />

Worauf also zielt Balázs’ Figur des Erlebens, einer Physiognomie der Menschen und Dinge? Er<br />

selbst verweist auf den „Ursprung der Sprache“, „die Ausdrucksbewegung“ 92 - und deren Medium<br />

sei die Großaufnahme: „Die Großaufnahme ist die Poesie des Films.“ 93 Balázs wird d<strong>am</strong>it, wie Jerzy<br />

Toeplitz 94 und Guido Aristarco 95 betonen, zum Entdecker der wahren Bedeutung der Großaufnahme<br />

für den Film. Zunächst sind es tatsächlich vor allem die Gesichter der Schauspieler, die zum<br />

Schauplatz des Dr<strong>am</strong>as werden. Mit der Großaufnahme übernimmt das Medium die Herrschaft über<br />

den Blick, führt ihn hinein in das Spiel der Mienen, der „Lebensatome“. 96 Gilles Deleuze erkennt,<br />

dass Balázs’ Großaufnahme des Gesichts ihr Objekt keineswegs aus ihrem Zus<strong>am</strong>menhang reißt,<br />

sondern: „sie abstrahiert von allen raumzeitlichen Koordinaten, das heißt sie verleiht ihm den<br />

87<br />

Ebd.<br />

88<br />

Vgl. Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 73. Dort zitiert Balázs interessanterweise eine Passage, die sich mit der<br />

Physiognomie der menschlichen Umgebung (Kleider, Hausrat etc.), also seiner Wirkung auf die zu ihm<br />

gehörenden Dinge auseinandersetzt. Vgl. dazu Balázs’ Erzählung „Mariannes Land“.<br />

89<br />

Diederichs, „Die Wiener Zeit“, S. 37.<br />

90<br />

Wuss, Kunstwert des Films, S. 137.<br />

91<br />

Balázs, Napló 1903-1914, S. 606. Eintrag im Juli 1913. Der Begriff bleibt auch in den kommenden Jahren<br />

vieldeutig. Am 29.10.1918 notiert er: „Meine Physiognomie hat mich auch jetzt nicht im Stich gelassen“ (Napló<br />

1914-1922, S. 339) und meint d<strong>am</strong>it offenkundig die Fähigkeit selbst, Menschen und ihren Charakter an ihrer<br />

Gestalt zu erkennen. Am 20.12.1919 heißt es: „Ich mag die einfachen Physiognomien, die einfache Sprache sehr.“<br />

(Ebd., S. 364)<br />

92<br />

Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 53.<br />

93<br />

Ebd., S. 86. Der Gedanke fand schnell Verbreitung. Auch bei Luis Buñuel heißt es wenige Jahre später:„Wir<br />

haben gesehen, daß der Film seine Sprache in der Großaufnahme findet. Die K<strong>am</strong>era kann die Flut der Ideen zum<br />

Ausdruck bringen und in vielfachem Maß vergrößern. [...] D<strong>am</strong>it beginnt die zweite große Eroberung der<br />

Photogenie: die der Intelligenz und der Sensibilität.“ (Luis Buñuel, „Über die Großaufnahme“, in: ders., Die<br />

Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle. Berlin: Wagenbach, 1991, S. 100 [zuerst in: La Gaceta Literaria, Madrid,<br />

1.4.1927].)<br />

94<br />

Toeplitz, Geschichte des Films. Band 1, S. 492.<br />

95<br />

Guido Aristarco, Storia delle teoriche del film. Turin: Einaudi, 1951, S. 48ff.<br />

96 Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 84.<br />

367

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!