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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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der mittelalterlichen Kathedralen übernommen hat. [...] Das Buch zerbrach den Stein: die eine Kirche<br />

in tausend Bücher. Aus dem sichtbaren Geist wurde ein lesbarer Geist, aus der visuellen Kultur eine<br />

begriffliche.“ 42 Balázs’ Denkfigur ist widersprüchlich: einerseits habe das Buch die Rolle des<br />

Ges<strong>am</strong>tkunstwerkes, der Kathedrale „übernommen“, andererseits dessen Einheit gewalts<strong>am</strong> zerstört,<br />

die Einheit des „Volksgeistes [...] in Millionen kleine Meinungen zerissen“. 43<br />

Bei Victor Hugo steht diese Zerstörung, dieser Mord einer Kultur an einer anderen noch im Zeichen<br />

des Fortschritts und nicht einer Utopie der Rückkehr in die „Einheit“ der Kultur. In einem Dialog<br />

seines Romans Notre D<strong>am</strong>e de Paris spricht der Erzdechant Claude Frollo in diesem<br />

Zus<strong>am</strong>menhang martialisch vom Töten, und Victor Hugo selbst pflichtet ihm bei: „die<br />

Buchdruckerpresse wird die Kirche töten [...] die Buchdruckerkunst wird die Baukunst töten.“ 44 Die<br />

Vernichtung der Baukunst durch das Buch ist für Hugo die Zerstörung einer universalen<br />

„Weltschrift“ 45 , aber auch die Gewinnung einer neuen: „Als gedrucktes Wort ist der Gedanke<br />

unvergänglicher denn je. Es sind ihm Flügel gewachsen; er ist ungreifbar, unzerstörbar geworden. [...]<br />

einst hatte er Dauer, jetzt hat er Unsterblichkeit.“ 46<br />

Balázs will dem Geist wieder Körper verleihen, Sichtbarkeit, doch nicht mehr die statische<br />

Körperlichkeit des steinernen Bildes schwebt ihm vor, sondern eine Kultur des Sichtbarwerdens des<br />

Immateriellen, „wortlosen Bildern, [...] welche menschliche Gefühle und Gedanken darstellen“ 47 , eine<br />

„jetzt neu entstehende (und zwar internationale) Sprache der mimischen<br />

Ausdrucksbewegung.“ 48<br />

Das Wort, so schreibt Balázs 1924, hat sich zwischen Leib und Seele gedrängt, ist „zur Hauptbrücke<br />

zwischen Mensch und Mensch geworden. In das Wort hat sich die Seele ges<strong>am</strong>melt und kristallisiert.<br />

Der Leib aber ist ihrer bloß geworden, ohne Seele und leer.“ 49 Es ist der Film, der dem Leib die<br />

Seele zurückgeben soll, freilich, was Balázs nicht schreibt, indem er den Leib selbst in ein flüchtiges<br />

Bild verwandelt.<br />

42<br />

Balázs, „Kinokritik !“, S. 150. (Vgl. Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 52f.)<br />

43<br />

Balázs, „Kinokritik !“, S. 150.<br />

44<br />

Victor Hugo, Notre D<strong>am</strong>e de Paris. Leipzig: Insel, 1958, S. 191.<br />

45<br />

Ebd., S. 196.<br />

46<br />

Ebd., S. 197. Vgl dazu auch Lorenz, Wissen ist Medium, S. 75 und 216.<br />

47<br />

Balázs, „Kinokritik !“, S. 150.<br />

48<br />

Ebd.<br />

49<br />

Balázs, „Der sichtbare Mensch“, S. 52. Auch Victor Hugo benutzt ein ähnliches Bild: „Das gedruckte Buch<br />

wurde zum zerstörenden Wurm, der sie [die Baukunst] aussaugte und verzehrte.“ (Hugo, Notre D<strong>am</strong>e de Paris, S.<br />

199)<br />

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