Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Damit Tagesgedanken aus dem Vorbewussten und Wünsche aus dem Unbewussten miteinander in Beziehung treten können, bedarf es eines regredierten Zustands, der die Zensur schwächt. Zugleich aber bleibt die Zensur wirksam, lässt die Artikulation der Wünsche nur in Form von Verschiebungen und Verdichtungen, also in symbolisch-bildhafter Gestalt zu. 115 Das Zusammenspiel von unbewussten Wünschen, vorbewussten Tagesgedanken und den Eingriffen der Zensur macht also symbolische Vorstellungen erst möglich und zugleich notwendig. Freud stellt nun einen Zusammenhang her zwischen der Möglichkeit, im Traum die psychische Besetzung unterschiedlicher Vorstellungsbilder von einem auf das andere zu übertragen, und dem Phänomen, dass die halluzinierten Vorstellungsbilder bis zur vollständigen Realitätstäuschung besetzt werden können: „Als wir von der Verdichtungsarbeit des Traumes sprachen, konnten wir der Annahme nicht ausweichen, daß durch die Traumarbeit die an den Vorstellungen haftenden Intensitäten von einer zur anderen voll übertragen werden. Wahrscheinlich ist es diese Abänderung des sonstigen psychischen Vorgangs, welche es ermöglicht, das System der W[ahrnehmung] bis zur vollen sinnlichen Lebhaftigkeit in umgekehrter Richtung, von den Gedanken her, zu besetzen.“ 116 Doch genau hierin unterscheiden sich Traum und Film: „Der Träumende weiß nicht, daß er träumt, der Filmzuschauer weiß, daß er im Kino ist“ 117 , schreibt Christian Metz und unterscheidet die Realitätstäuschung des Traumes vom Realitätseindruck, den das Bild auf der Leinwand vermittelt. Welchen Status aber hat dieses Bild dann für den Betrachter? Die Frage richtet sich auf das, was Gilbert Cohen-Séat 1946 als „fait cinématographique“ vom „fait filmique“ 118 unterschieden wissen wollte, also das Gesamt der Wirkungen, die der Diskurs der filmischen Bilder auf den Betrachter auszuüben imstande ist. Cohen-Séat beobachtete beim Kinozuschauer einen „Zustand der Egoschwächung“, eine „herabgesetzte Selbstbeherrschung“ 119 , 115 Freud beschreibt dabei eine Hierarchie der Erinnerungsbilder, an denen die Erregung anhaftet und nach denen das Bedürfnis nach Wahrnehmungsidentität strebt, von der zunächst herrschenden „Assoziation durch Gleichzeitigkeit“ hin zu einer „Beziehung der Ähnlichkeit“, also einer Bewegung von der Metonymie zur Metapher (ebd., S. 515). 116 Ebd., S. 519. 117 Christian Metz, „Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung“, in: Psyche, Jg. 48, H. 11 (1994), S. 1004 [der Aufsatz ist eine Übersetzung des 3. Kapitels von Le Signifiant imaginaire über Formen der Objektbeziehung im Kino und im Traum]. 118 Gilbert Cohen-Séat, Film und Philosophie. Ein Essai. Gütersloh: Bertelsmann Verlag, 1962, S. 34ff. [Originalausgabe: Essai sur les Principes d’une Philosophie du Cinéma. Introduction Génerale, 1946]. Die deutsche Übersetzung ist leider an manchen Stellen irreführend. So ist „filmischer Diskurs“ beipielsweise durchgehend mit „filmisches Gespräch“ übersetzt. 119 Ebd., S. 18. 347

eine Massenbewegung, die sich mit dem „erstaunlichen Phänomen der Unterwerfung“ 120 verbindet, „in Träumen sich wiegend“ 121 , in einem Zustand des „Schwindels“ 122 , in dem die Kontrolle über die Grenzen zwischen den verschiedenen Systemen des Bewusstseins verloren geht: „[S]elbst mit dem Unterbewußtsein ist diese Menschenansammlung Sklave einer mechanischen Intervention.“ 123 Die Kinozuschauer bilden eine Masse, aber eine Masse von Einsamen, die nach dem Kinobesuch zögernd wieder Kontakt zu den Mitmenschen aufnehmen müssen. 124 Während der Vorführung verliert der Körper des Zuschauers an Bedeutung. Die Wahrnehmung teilt sich auf in „zwei völlig voneinander getrennte Reihen, die ‘visuelle Reihe’ (d.h. der Film, die Diegese) und die ‘propriozeptive Reihe’, d.h. das Bewußtsein vom eigenen Körper - und damit das der realen Welt -, das nur noch ein schwache Rolle spielt“. 125 So geht die weitgehende Abwesenheit motorischer, praktischer, aktiver Partizipation an der Umwelt Hand in Hand mit einer dramatischen Steigerung der psychischen und emotionalen Partizipation. 126 Die visuellen und akustischen Wahrnehmungen, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers in Beschlag nehmen, bleiben abgeschnitten von jeder Möglichkeit des Handelns, des Eingreifens. Zugleich löst sich, in einem Zustand des Eingehülltseins, die Wahrnehmung der eigenen Körpergrenzen auf, erstreckt sich die psychische Besetzung ununterschieden auf die gesamte wahrgenommene Szene, und damit auch unterschiedslos auf Dinge und Wesen, die in ihr auftreten. Die Bilder haben die Qualität, die symbolische Struktur, die psychische Intensität von Halluzinationen. Aber sie treffen vom Projektor herkommend, von der Leinwand gespiegelt von außen auf das Wahrnehmungssystem des Zuschauers. Metz spricht von einer „paradoxen Halluzination“ 127 , die die Realitätsprüfung ins Schwanken bringt, denn das „Subjekt hat diesmal 120 Ebd., S. 25. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 68. 123 Ebd. 124 Vgl. Cohen-Séat, Film und Philosophie, S. 44; sowie Metz, „Der fiktionale Film und sein Zuschauer“, S. 1037. 125 Metz, Semiologie des Films, S. 30. Metz beruft sich dabei auf Henri Wallon, den auch schon Morin und Kracauer wiederholt zitieren. Wallon hatte in der von Cohen-Séat begründeten Zeitschrift Revue Internationale de Filmologie Anfang der fünfziger Jahre über das Rezeptionsverhalten des Kinozuschauers publiziert. 126 Michael Dard hatte 1928 wohl als erster jene irritierende Form der „Sensibilität“ beschrieben, die die Kinozuschauer vor der Leinwand entwickelten. „Man hat tatsächlich in Frankreich noch nie eine Sensibilität wie diese beobachtet. Passiv, persönlich, so wenig humanistisch oder humanitär wie nur möglich; zerstreut, unorganisiert und ihrer selbst so unbewußt wie eine Amöbe; ohne Gegenstand, oder besser, sich allen [Gegenständen] anheftend wie Nebel, sie durchdringend wie Regen; schwer zu ertragen, leicht zu befriedigen, unmöglich zu zügeln; überall wie ein aufgescheuchter Traum, jener Grübelei verfallen, von der Dostojewskij spricht und die ständig aufspeichert, ohne irgendetwas von sich zu geben.“ (Michel Dard, Valeur humaine du cinéma. Paris 1928, S. 10, zitiert nach Kracauer, Theorie des Films, S. 225) 127 Metz, „Der fiktionale Film und sein Zuschauer“, S. 1007. 348

D<strong>am</strong>it Tagesgedanken aus dem Vorbewussten und Wünsche aus dem Unbewussten miteinander in<br />

Beziehung treten können, bedarf es eines regredierten Zustands, der die Zensur schwächt. Zugleich<br />

aber bleibt die Zensur wirks<strong>am</strong>, lässt die Artikulation der Wünsche nur in Form von Verschiebungen<br />

und Verdichtungen, also in symbolisch-bildhafter Gestalt zu. 115 Das Zus<strong>am</strong>menspiel von unbewussten<br />

Wünschen, vorbewussten Tagesgedanken und den Eingriffen der Zensur macht also symbolische<br />

Vorstellungen erst möglich und zugleich notwendig.<br />

Freud stellt nun einen Zus<strong>am</strong>menhang her zwischen der Möglichkeit, im Traum die psychische<br />

Besetzung unterschiedlicher Vorstellungsbilder von einem auf das andere zu übertragen, und dem<br />

Phänomen, dass die halluzinierten Vorstellungsbilder bis zur vollständigen Realitätstäuschung besetzt<br />

werden können: „Als wir von der Verdichtungsarbeit des Traumes sprachen, konnten wir der<br />

Annahme nicht ausweichen, daß durch die Traumarbeit die an den Vorstellungen haftenden<br />

Intensitäten von einer zur anderen voll übertragen werden. Wahrscheinlich ist es diese Abänderung<br />

des sonstigen psychischen Vorgangs, welche es ermöglicht, das System der W[ahrnehmung] bis zur<br />

vollen sinnlichen Lebhaftigkeit in umgekehrter Richtung, von den Gedanken her, zu besetzen.“ 116<br />

Doch genau hierin unterscheiden sich Traum und Film:<br />

„Der Träumende weiß nicht, daß er träumt, der Filmzuschauer weiß, daß er im Kino ist“ 117 , schreibt<br />

Christian Metz und unterscheidet die Realitätstäuschung des Traumes vom Realitätseindruck, den<br />

das Bild auf der Leinwand vermittelt. Welchen Status aber hat dieses Bild dann für den Betrachter?<br />

Die Frage richtet sich auf das, was Gilbert Cohen-Séat 1946 als „fait cinématographique“ vom „fait<br />

filmique“ 118 unterschieden wissen wollte, also das Ges<strong>am</strong>t der Wirkungen, die der Diskurs der<br />

filmischen Bilder auf den Betrachter auszuüben imstande ist. Cohen-Séat beobachtete beim<br />

Kinozuschauer einen „Zustand der Egoschwächung“, eine „herabgesetzte Selbstbeherrschung“ 119 ,<br />

115 Freud beschreibt dabei eine Hierarchie der Erinnerungsbilder, an denen die Erregung anhaftet und nach denen<br />

das Bedürfnis nach Wahrnehmungsidentität strebt, von der zunächst herrschenden „Assoziation durch<br />

Gleichzeitigkeit“ hin zu einer „Beziehung der Ähnlichkeit“, also einer Bewegung von der Metonymie zur<br />

Metapher (ebd., S. 515).<br />

116 Ebd., S. 519.<br />

117 Christian Metz, „Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung“, in: Psyche,<br />

Jg. 48, H. 11 (1994), S. 1004 [der Aufsatz ist eine Übersetzung des 3. Kapitels von Le Signifiant imaginaire über<br />

Formen der Objektbeziehung im Kino und im Traum].<br />

118 Gilbert Cohen-Séat, Film und Philosophie. Ein Essai. Gütersloh: Bertelsmann Verlag, 1962, S. 34ff.<br />

[Originalausgabe: Essai sur les Principes d’une Philosophie du Cinéma. Introduction Génerale, 1946]. Die<br />

deutsche Übersetzung ist leider an manchen Stellen irreführend. So ist „filmischer Diskurs“ beipielsweise<br />

durchgehend mit „filmisches Gespräch“ übersetzt.<br />

119 Ebd., S. 18.<br />

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