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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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„In der Tat gibt es keine Erzählung, an der die Frage: Wie ging es weiter? ihr Recht verlöre“ 54 ,<br />

schrieb Walter Benj<strong>am</strong>in und stellte die mündliche Erzähltradition d<strong>am</strong>it gegen das „Finis“ des<br />

Romans. Auch die dem Happy-End so oft entgegengestellte Frage „Und was passiert dann?“<br />

beantwortet der Zuschauer auf die gleiche Weise, wie der Zuhörer des Märchens. Er geht aufs Neue<br />

ins Kino, um an der nächsten Heldenreise teilzunehmen. Und er erzählt die Geschichte des Filmes<br />

weiter, nimmt teil an einer mündlichen Erzähltradition, die zum Kino gehört, wie sonst nur zum<br />

Märchen. Sprechen über den Film verlängert nicht nur den Kontakt zum geliebten, zum „guten<br />

Objekt“ in den Alltag hinein, wie Christian Metz schreibt. 55 Es bereitet den nächsten Film vor, unsere<br />

eigene Wahrnehmung, aber auch die Produktion der Filmfabriken. „Der erste wahre Erzähler ist und<br />

bleibt der von Märchen“ 56 , so schrieb Benj<strong>am</strong>in über den „Erzähler“ und die Kunst des Erzählens:<br />

„Geschichten erzählen ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die<br />

Geschichten nicht mehr behalten werden. Sie verliert sich, weil nicht mehr gewebt und gesponnen<br />

wird, während man ihnen lauscht. Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm<br />

das Gehörte ein.“ 57<br />

„Gewebt und gesponnen“, diese Formulierung Benj<strong>am</strong>ins für den häuslichen Arbeitsprozess und die<br />

Integration des Erzählens in einen vorindustriellen Alltag, in dem Produktion und Reproduktion noch<br />

nicht voneinander getrennt sind, deutet auch die Poetik des Märchens als eine unendliche Traumwelt,<br />

in der Erzähler und Zuhörer potentiell miteinander identisch sind.<br />

10.3 Der „mütterliche Raum“<br />

Die Erfahrung des Kino ist vor allem anderen eines: die eines imaginären Raumes.<br />

„Wenn die Zauberkräfte des Schattens und des Doubles“, so schreibt Edgar Morin, „auf einem<br />

weißen Bildschirm in einem nächtlichen Saal zus<strong>am</strong>men wirken, wenn der Zuschauer in seiner Wabe<br />

steckt - eine Monade, die für alles mit Ausnahme der Bildwand verschlossen ist, eingehüllt in die<br />

doppelte Plazenta einer anonymen Gemeinschaft und der Dunkelheit -, wenn die Ventile jeder<br />

54<br />

Benj<strong>am</strong>in, „Der Erzähler“, S. 455.<br />

55<br />

Vgl. Metz, The Imaginary Signifier, S. 14: „It makes explicit the film’s inaudible mumuring to us of ‘love me’.“<br />

56<br />

Benj<strong>am</strong>in, „Der Erzähler“, S. 457.<br />

57<br />

Ebd., S. 446f. Benj<strong>am</strong>in freilich bindet die Möglichkeit mitteilbarer Erfahrung, die Möglichkeit des Erzählens an<br />

das Erleben des Todes, an den Blick des Sterbenden, der den Bildern der Erinnerung Autorität verleiht. Wie in<br />

„Erfahrung und Armut“ konstatiert er auch hier die Zerstörung mitteilbarer Erfahrung durch den Krieg, durch ein<br />

Sterben, von dem nicht mehr berichtet werden konnte, das nicht mehr erzählt, von Mund zu Mund tradiert wurde.<br />

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