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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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es eliminiert die „gnadenlos tumbe Einmaligkeit der uns gefangen haltenden Realität. [...] Die Welt<br />

verwandelt sich in schwebende, bemalte Theatervorhänge, die in jedem Moment aufgehen können<br />

und vor uns breitet sich etwas anderes aus, etwas ganz anderes. Man könnte glauben, das Märchen<br />

sei der stärkste Ausdruck des metaphysischen Instinkts.“ 78 Indem das Märchen keinen Gegensatz<br />

von Transzendenz und Immanenz, nur eine Welt unendlicher Möglichkeit kennt, ist ihm alles<br />

immanent, und alles transzendent zugleich, wird das „Untragische“ metaphysisch, und das<br />

Metaphysische figurativ. Balázs’ Theatervorhänge verwandeln sich unwillkürlich in eine Leinwand,<br />

auf die das Märchen, genauer: der, der es hört, seine Bilder und Wünsche projiziert.<br />

„Das Märchen sehnt sich nicht, blickt nicht nach außen. [...] Das Märchen hat keine Grenzen und<br />

deshalb hat es auch nichts Grenzenloses. [...] Das Märchen kennt kein Nichtverstehen. [...] Es will<br />

nichts verstehen und deshalb gibt es auch nichts, was es nicht verstünde [...] Das Märchen ist<br />

Bewusstlosigkeit.“ 79 Jener Zustand, den das Märchen figuriert und in dem das Unwirkliche zu<br />

Realität wird, ist für Balázs von dem höchsten Bewusstsein der Tragödie so weit entfernt wie nichts<br />

anderes, und zugleich räumt er ein: „Wir sind manchmal bereit zu glauben, das Märchen sei die<br />

Krönung der Kunst. Das Paradoxon des Märchen ist gar nicht so einfach.“ 80<br />

Das Märchen wird für Balázs zeitlebens zentrale Bedeutung besitzen, als Medium einer erlösten<br />

Welt, dessen Faszinosum er gerne erliegt, selbst wenn er ihm misstraut - dessen Leichtigkeit und<br />

Immanenz er sich schämt und auf dessen Massenwirkung, dessen Volkstümlichkeit er zugleich seine<br />

Hoffnungen setzt. Das Märchen offenbart sich ihm dabei weniger als Medium einer Mitteilung denn<br />

als Medium eines Bewusstseinszustandes, eines Wahrnehmungserlebnisses der Schwerelosigkeit,<br />

des Schwebens in einer Phantasiewelt, die nicht jenseits, sondern inmitten der Alltagswelt sich auftut.<br />

„Auch das Sichtbare bekommt Wunderbedeutung,“ so notiert er in Berlin in sein Tagebuch, „wird<br />

zur Fortsetzung unseres Märchenwunders. Und das ist nachgerade das Endziel.“ 81<br />

Viele Gedanken der „Todesästhetik“ finden sich identisch oder in anderen Worten auch im Tagebuch<br />

wieder. Wie Imre Kertész schreibt: „Unter viel Kleinlichkeit, Niedrigkeit hier und da blitzartig<br />

aufleuchtende große Erkenntnisse.“ 82 Im Tagebuch finden sich Visionen eines neuen, kommenden<br />

78<br />

Ebd., S. 315<br />

79<br />

Ebd.<br />

80<br />

Ebd., S. 317.<br />

81<br />

Balázs, Napló 1903-1914, S. 356. Eintrag vom 22.10.1906.<br />

82<br />

Imre Kertész, Galeerentagebuch. Reinbek: Rowohlt, 1997 [Originalausgabe: Gályanapló, 1992], S. 140<br />

(Eintragung vom August 1982 in Kertész’ eigenem, zur Veröffentlichung bearbeiteten Tagebuch).<br />

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