Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Balint unterscheidet zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit dieser Erfahrung: das Anklammern an die Objekte und die Distanzierung von ihnen. Den objektstarken Typus nennt Balint „oknophil“, den objektschwachen „philobatisch“. 9 Beiden gemeinsam ist es, auf die Wiederherstellung eines Zustandes „primärer Liebe“ 10 hin orientiert zu sein, in der den libidinösen Wünschen keinerlei Widerstand entgegengesetzt wird. „Vollständige Harmonie herrscht und muß herrschen, das heißt volle Identität von Wunsch und Befriedigung.“ 11 Doch unser jeweiliges Verhältnis zu den uns umgebenden Menschen und Dingen wird im oknophilen oder philobatischen Typus höchst unterschiedlich auf dieses Ziel gerichtet, unsere Wahrnehmung gegensätzlich strukturiert: „Der Oknophile lebt von Objekt zu Objekt und bemißt seine Aufenthalte in den leeren Räumen so kurz als möglich. [...] Ganz anders sieht die Welt für den Philobaten aus. [...] Wir können [...] sagen, daß die philobatische Welt aus freundlichen Weiten besteht, die mehr oder weniger dicht mit gefährlichen Objekten durchsetzt sind. [...] Die oknophile Welt baut sich aus physischer Nähe und Berührung auf, die philobatische Welt aus sicherer Distanz und Fernsinn. [...] Während der Oknophile in der Illusion lebt, daß er, solange er in Berührung mit einem sicheren Objekt steht, auch selbst sicher ist, beruht die Illusion des Philobaten darauf, daß er außer seiner eigenen Ausrüstung keiner Objekte bedürfe, sicherlich nicht eines einzelnen Objekts.“ 12 Während die niederen Sinne (Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn), die einen unmittelbaren Körperkontakt zu den Objekten voraussetzen, den Wahrnehmungshorizont oknophilen Erlebens abstecken, so sind die Distanzsinne, und hier insbesondere das Auge, das den Reiz eindeutig außerhalb der eigenen Körpergrenzen zu lokalisieren imstande ist, die Medien philobatischen Erlebens. Das Auge durchmisst die „freundlichen Weiten“ und entdeckt rechtzeitig die möglicherweise feindlichen Objekte. Gert Raeithels Versuch, Balints Beobachtungen auf die amerikanische Gesellschaft und ihre Kultur bis hin zum Film anzuwenden, knüpft genau hier an: Der 9 Gert Raeithel hat in seiner Studie über die Amerikaner Balints Theorie auf eine ganze Gesellschaft und ihre Kultur angewendet und das kollektive Porträt einer Psychologie der Auswanderer gezeichnet, deren zentrales Moment er in der Bereitschaft zum „Aufbruch“, der Bereitschaft zum „Objektverzicht“ ausmacht. „Der Auswanderer ist willens, Verwandte und Bekannte, Haus und Hof zu verlassen, die Brücken hinter sich niederzubrennen, wie Jacob Riis schreibt.“ (Gert Raeithel, „Go West“ - Ein psychohistorischer Versuch über die Amerikaner. Frankfurt am Main: Syndikat, 1981, S. 27) Raeithel weist nach, wie eine ganze Gesellschaft von der Transformation bestimmter Motive der individuellen Psyche in kulturelle Muster geprägt sein kann. „Das persönliche Apriori des Auswanderers war sein philobatische Disposition, seine Neigung zu schwachen Objektbeziehungen. Schwache Objektbeziehungen wurden zum kulturellen Apriori der amerikanischen Gesellschaft.“ (Ebd., S. 87) 10 Balint, Angstlust und Regression, S. 19. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 29f. 325

„freie Westen“ und der „wilde Westen“ sind nur zwei entgegengesetzte Symbolisierungen derselben Utopie „freundlicher Weite“, in der es bloß der freien Unternehmung bedarf, um sicher zu existieren. Der Pionier dringt ins weite Land ein, dessen Bewohner er nur als störende, feindliche Objekte anzusehen vermag und entsprechend behandelt. Dabei nimmt er eigene Risiken gerne in Kauf, ja er fordert gesteigerte Angstlust geradezu heraus. „Eine Grunderfahrung des objektschwachen Typs ist Unerfülltheit. Er reist ohne anzukommen. Einer der typischen Frontiersmen, Andrew Jackson [...] war gequält von einer Todessehnsucht, die ans Selbstmörderische grenzte.“ 13 Die feindlichen Objekte auf Distanz zu halten erfordert eine permanente Vervollkommnung der Techniken, die den Philobaten, den objektschwachen Typus, zum sicheren Flug durch den Raum befähigen. So scheint es, dass es sich bei der „Oknophilie“ um die „spontanere, fast reflexartige Haltung“ 14 , also eine primitivere Praxis handeln würde. Doch der notwendige Erwerb von Techniken, die den „Philobaten“ möglicherweise als den prototypischen Agenten des Fortschritts erscheinen lassen 15 , identifiziert Balint als „Progression um der Regression“ 16 willen: eine Fähigkeit zur Regression die im „Normalfall“ dabei hilft, den Durchgang durch eine extreme Situation zu überstehen, während sie in der Form einer pathologischen Störung des psychischen Gleichgewichts die Extremsituation wie in einem Wiederholungszwang immer wieder heraufbeschwört. „Die Fertigkeiten (skills), die er erwerben konnte, befähigten ihn, bis zu einem gewissen Grade die zerstörte Harmonie zwischen ihm und der Welt wiederherzustellen. Der Preis, den er dafür zu zahlen hat, scheint ein Zwang zu einer nie endenden Wiederholung des ursprünglichen Traumas zu sein, eine Art traumatischer Neurose. Um die Illusion der ‘freundlichen Weiten’ wiederherzustellen und die erregende Spannung (thrill) zu erfahren, muß er die Sicherheitszone verlassen und sich Risiken aussetzen, die das ursprüngliche Trauma erneut gegenwärtig machen. Wie wir wissen, können diese Risiken in pathologischen Fällen, vor allem in der Pubertät und Adoleszenz, unverhältnismäßig schwere sein.“ 17 Dies ist wohl nicht nur in eindeutig „pathologischen“ Fällen so. Auch Balázs’ Jugendautobiographie ist voll von solchen Mutproben: Übernachtungen auf Berggipfeln, Besteigungen, die die Schwerkraft 13 Raeithel, S. 49. 14 Balint, Angstlust und Regression, S. 28. 15 Über die Seele des Wanderers schreibt Balázs, sie sei „wie das freie Rad, das wankt und fällt, wenn es nicht rollt. Vielleicht sind solche Wanderseelen die Räder, auf denen die Welt, die auch noch lange nicht fertig ist, weiterkommt.“ (Balázs, Der Phantasie-Reiseführer, S. 13) 16 Balint, Angstlust und Regression, S. 72. 17 Ebd., S. 73. 326

Balint unterscheidet zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit dieser Erfahrung: das Ankl<strong>am</strong>mern an<br />

die Objekte und die Distanzierung von ihnen. Den objektstarken Typus nennt Balint „oknophil“, den<br />

objektschwachen „philobatisch“. 9 Beiden gemeins<strong>am</strong> ist es, auf die Wiederherstellung eines<br />

Zustandes „primärer Liebe“ 10 hin orientiert zu sein, in der den libidinösen Wünschen keinerlei<br />

Widerstand entgegengesetzt wird. „Vollständige Harmonie herrscht und muß herrschen, das heißt<br />

volle Identität von Wunsch und Befriedigung.“ 11 Doch unser jeweiliges Verhältnis zu den uns<br />

umgebenden Menschen und Dingen wird im oknophilen oder philobatischen Typus höchst<br />

unterschiedlich auf dieses Ziel gerichtet, unsere Wahrnehmung gegensätzlich strukturiert:<br />

„Der Oknophile lebt von Objekt zu Objekt und bemißt seine Aufenthalte in den leeren Räumen so<br />

kurz als möglich. [...] Ganz anders sieht die Welt für den Philobaten aus. [...] Wir können [...] sagen,<br />

daß die philobatische Welt aus freundlichen Weiten besteht, die mehr oder weniger dicht mit<br />

gefährlichen Objekten durchsetzt sind. [...] Die oknophile Welt baut sich aus physischer Nähe und<br />

Berührung auf, die philobatische Welt aus sicherer Distanz und Fernsinn. [...] Während der<br />

Oknophile in der Illusion lebt, daß er, solange er in Berührung mit einem sicheren Objekt steht, auch<br />

selbst sicher ist, beruht die Illusion des Philobaten darauf, daß er außer seiner eigenen Ausrüstung<br />

keiner Objekte bedürfe, sicherlich nicht eines einzelnen Objekts.“ 12<br />

Während die niederen Sinne (Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn), die einen unmittelbaren<br />

Körperkontakt zu den Objekten voraussetzen, den Wahrnehmungshorizont oknophilen Erlebens<br />

abstecken, so sind die Distanzsinne, und hier insbesondere das Auge, das den Reiz eindeutig<br />

außerhalb der eigenen Körpergrenzen zu lokalisieren imstande ist, die Medien philobatischen<br />

Erlebens. Das Auge durchmisst die „freundlichen Weiten“ und entdeckt rechtzeitig die<br />

möglicherweise feindlichen Objekte. Gert Raeithels Versuch, Balints Beobachtungen auf die<br />

<strong>am</strong>erikanische Gesellschaft und ihre Kultur bis hin zum Film anzuwenden, knüpft genau hier an: Der<br />

9 Gert Raeithel hat in seiner Studie über die Amerikaner Balints Theorie auf eine ganze Gesellschaft und ihre Kultur<br />

angewendet und das kollektive Porträt einer Psychologie der Auswanderer gezeichnet, deren zentrales Moment er<br />

in der Bereitschaft zum „Aufbruch“, der Bereitschaft zum „Objektverzicht“ ausmacht. „Der Auswanderer ist<br />

willens, Verwandte und Bekannte, Haus und Hof zu verlassen, die Brücken hinter sich niederzubrennen, wie Jacob<br />

Riis schreibt.“ (Gert Raeithel, „Go West“ - Ein psychohistorischer Versuch über die Amerikaner. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong><br />

<strong>Main</strong>: Syndikat, 1981, S. 27)<br />

Raeithel weist nach, wie eine ganze Gesellschaft von der Transformation bestimmter Motive der individuellen<br />

Psyche in kulturelle Muster geprägt sein kann. „Das persönliche Apriori des Auswanderers war sein<br />

philobatische Disposition, seine Neigung zu schwachen Objektbeziehungen. Schwache Objektbeziehungen<br />

wurden zum kulturellen Apriori der <strong>am</strong>erikanischen Gesellschaft.“ (Ebd., S. 87)<br />

10 Balint, Angstlust und Regression, S. 19.<br />

11 Ebd.<br />

12 Ebd., S. 29f.<br />

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