Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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X. Allmacht und Ohnmacht Film und Regression 10.1 Regression durch Progression / Progression durch Regression Liest man Balázs’ Essays über das Reisen als Psychologie eines Wahrnehmungsverhaltens, dann entspricht seine Charakterisierung des Wanderers - des konstitutiv Fremden - in verblüffender Weise der von Michael Balint 1 analysisierten Bewältigungspraxis gegenüber traumatischen Entfremdungserfahrungen, wie sie aus dem Prozess der Auflösung der symbiotischen Mutter-Kind- Beziehung herrühren. 2 Der in Budapest geborene Psychoanalytiker hatte sich insbesondere mit Phänomenen der Regression beschäftigt, sowohl innerhalb der klinischen Praxis selbst, als auch in Bezug auf die von Freud eher gemiedenen Grundstörungen, die noch vor den Spracherwerb zurückreichen. In seiner Studie über Angstlust und Regression 3 unternimmt er, über die Beschreibung von Zwangscharakteren hinaus, eine Deutung zweier psychischer Grunddispositionen, als Umgangsweisen mit einer erfolgten Loslösung aus der symbiotischen Beziehung der ersten Lebensjahre, die sich in bestimmten regressiven Verhaltensformen im psychonalytischen Prozess niederschlagen. Hier interessieren weniger die Schlussfolgerungen, die Balint aus diesen Beobachtungen für die psychoanalytische Praxis zieht, als seine generelle Beschreibung von Wahrnehmungsdispositionen, die er in den Begriffen „Oknophilie“ und „Philobatismus“ polarisiert. 4 Balint entwirft, von empirischen Subjekten und konkreten klinischen Fällen ausgehend, eine fragmentarische Kulturtheorie: eine Typologie von Formen des Verhältnissen zwischen Subjekt und Außenwelt. Dabei ist er sich bewusst, dass die analytisch bestimmten Typen sich empririsch eher in Abstufungen und Mischungen realisieren. 1 Michael Balint (1896-1970), Psychoanalytiker, Schüler von Sandor Ferenczi in Budapest, 1939 Emigration nach England. 2 Zur frühkindlichen Symbiose und ihrer Überwindung vgl. u.a. Margaret S. Mahler, Symbiose und Individuation. Band 1: Psychosen im frühen Kindesalter. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979; Selma Fraiberg, Die magischen Jahre in der Persönlichkeitsentwicklung des Vorschulkindes. Reinbek: Rowohlt, 1972 [Originalausgabe: The Magic Years, 1959]. 3 Michael Balint, Angstlust und Regression. Reinbek: Rowohlt, 1972 [Originalausgabe: Thrills and Regression, 1959]. 4 Oknophilie: „Okno“ (griech.: sich anklammern); „Philobatismus“: Verbindung von „Philo-“ und „Akrobat“. 323

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die verstörende Erfahrung der Kindheit, dass es außerhalb von uns selbst unabhängige Objekte gibt, die unseren Bedürfnissen und Wünschen Widerstand entgegensetzen, dass die Gegenstände in unserer Umgebung nach ihren eigenen, uns unbekannten Gesetzen funktionieren, dass zwischen Wunsch und Erfüllung ein komplizierter Prozess von Beobachtung, Aneignung und Handlungen liegt, Anforderungen, auf die wir reagieren müssen, die uns zu Überlegungen und Aktivitäten zwingen, die Erfahrung also, dass es eine „Welt“ gibt. Selma Fraiberg hat jene Lebensphase, die zwischen der Bewusstlosigkeit und simultanen Befriedigung der embryonalen Existenz und der Individuation, dem entwickelten Bewusstsein der Trennung von Subjekt und Objektwelt liegt, als „magische Jahre“ bezeichnet. Es ist dies keine „Zeit der völligen Dunkelheit und des ursprünglichen Chaos“ 5 mehr, sondern ein Beginn der Differenzierung der Sinneseindrücke. Doch die langsam ins Gesichtsfeld des Neugeborenen tretenden Objekte sind noch Teil einer gefühlten Einheit: zuerst innerhalb der Symbiose mit der Mutter, später in einer unmittelbar empfundenen magischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. „Wollen wir uns seine Welt vorstellen, dann können wir Analogien nur in der Traumwelt finden. Undeutliche Gegenstände schwimmen in das Gesichtsfeld, weichen wieder zurück und zergehen im Nichts. Ein menschliches Gesicht schwebt über dem Baby wie die Maske eines Geistes - und löst sich wieder auf.“ 6 Bedürfnisse rufen ihre Befriedigung, kaum artikulieren sie sich als Wunsch, scheinbar von selbst herbei: „[S]eine Mahlzeit kommt zu ihm wie jene unerschöpglichen Krüge in der Märchenwelt, die überfließen von berauschendem Saft, immer magisch zur Hand, wenn man sie braucht oder das magische Zauberwort ausspricht.“ 7 Und erst langsam lernt das Kind zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen, inneren und äußeren Bildern zu unterscheiden, löst sich die ursprüngliche Wahrnehmungsidentität von Vorstellungbildern und realer Befriedigung eines Bedürfnisses auf. Bis zur zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres wird es dauern, bis es verstehen wird, dass ein Gegenstand eine Existenz hat, auch ohne dass man ihn selbst wahrnimmt, dass ein Gegenstand, der aus dem Gesichtsfeld verschwindet dennoch weiter existiert und wieder erscheinen kann, auch ohne, dass man ihn selbst herbeigewünscht hat. Sigmund Freud hat diesen Lernprozess in seinem bekannten Beispiel des „Garnrollenspiels“ in Jenseits des Lustprinzips angedeutet, und wie Alfred Lorenzer zeigt, mit der Entstehung des Sprachsymbols verknüpft, der szenischen Einheit von „Fort“-sein, und „Da“-sein. 8 5 Fraiberg, Die magischen Jahre, S. 34. 6 Ebd., S. 33. 7 Ebd., S. 34. 8 Lorenzer, „Tiefenhermeneutische Kulturanalyse“, S. 54ff. 324

X.<br />

Allmacht und Ohnmacht<br />

Film und Regression<br />

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Liest man Balázs’ Essays über das Reisen als Psychologie eines Wahrnehmungsverhaltens, dann<br />

entspricht seine Charakterisierung des Wanderers - des konstitutiv Fremden - in verblüffender Weise<br />

der von Michael Balint 1 analysisierten Bewältigungspraxis gegenüber traumatischen<br />

Entfremdungserfahrungen, wie sie aus dem Prozess der Auflösung der symbiotischen Mutter-Kind-<br />

Beziehung herrühren. 2 Der in Budapest geborene Psychoanalytiker hatte sich insbesondere mit<br />

Phänomenen der Regression beschäftigt, sowohl innerhalb der klinischen Praxis selbst, als auch in<br />

Bezug auf die von Freud eher gemiedenen Grundstörungen, die noch vor den Spracherwerb<br />

zurückreichen. In seiner Studie über Angstlust und Regression 3 unternimmt er, über die<br />

Beschreibung von Zwangscharakteren hinaus, eine Deutung zweier psychischer Grunddispositionen,<br />

als Umgangsweisen mit einer erfolgten Loslösung aus der symbiotischen Beziehung der ersten<br />

Lebensjahre, die sich in bestimmten regressiven Verhaltensformen im psychonalytischen Prozess<br />

niederschlagen. Hier interessieren weniger die Schlussfolgerungen, die Balint aus diesen<br />

Beobachtungen für die psychoanalytische Praxis zieht, als seine generelle Beschreibung von<br />

Wahrnehmungsdispositionen, die er in den Begriffen „Oknophilie“ und „Philobatismus“ polarisiert. 4<br />

Balint entwirft, von empirischen Subjekten und konkreten klinischen Fällen ausgehend, eine<br />

fragmentarische Kulturtheorie: eine Typologie von Formen des Verhältnissen zwischen Subjekt und<br />

Außenwelt. Dabei ist er sich bewusst, dass die analytisch bestimmten Typen sich empririsch eher in<br />

Abstufungen und Mischungen realisieren.<br />

1<br />

Michael Balint (1896-1970), Psychoanalytiker, Schüler von Sandor Ferenczi in Budapest, 1939 Emigration nach<br />

England.<br />

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Zur frühkindlichen Symbiose und ihrer Überwindung vgl. u.a. Margaret S. Mahler, Symbiose und Individuation.<br />

Band 1: Psychosen im frühen Kindesalter. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979; Selma Fraiberg, Die magischen Jahre in<br />

der Persönlichkeitsentwicklung des Vorschulkindes. Reinbek: Rowohlt, 1972 [Originalausgabe: The Magic<br />

Years, 1959].<br />

3<br />

Michael Balint, Angstlust und Regression. Reinbek: Rowohlt, 1972 [Originalausgabe: Thrills and Regression,<br />

1959].<br />

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Oknophilie: „Okno“ (griech.: sich ankl<strong>am</strong>mern); „Philobatismus“: Verbindung von „Philo-“ und „Akrobat“.<br />

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