Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz
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sich realisiert: “erstaunlich, wie gut ich solch Einfältiges erzählen und in Bildern denken kann”. 75 Eine hohe Meinung vom Film und seiner eigenen Gelegenheitsarbeit für ihn hat Balázs noch keineswegs. Die Auftragsarbeit der chinesischen Märchen aber stand so unmittelbar an der Schwelle von Balázs’ fast beiläufigem Schritt zum Filmautor. Und jenes Märchen, das dem Band, der 1922 erschien, den Titel gab, liest sich wie der poetische Entwurf zu Balázs’ Ästhetik des Kino: “Der Mantel der Träume”. 76 Kaiser Ming-Huang und Kaiserin Näi-Fe, so erzählt das Märchen, haben sich ewige Liebe geschworen. Aber die Kaiserin ist eine träumende Seele. Hält sie der Kaiser in den Armen, so schweift ihr Blick in die Ferne und ihre Seele ist weit entfernt von ihm. Eines Nachts träumt sie, in ihrem Bett schwebend, wie in in einem Boot auf einem Fluß, ihr Mann trüge einen Mantel, auf dem Bilder aller ihrer Träume gestickt waren. “Das ganze Traumland, nachdem ihre Seele sich sehnte, trug er auf seinem Mantel.” 77 Am nächsten Tag zieht sich Näi-Fe in das Gartenhaus im Park zurück und beginnt ihrem Gemahl einen solchen Mantel zu sticken. Fünf Jahre braucht sie dafür, schließt sich ein, wie die Initianden in der Seklusion ihrer Hütte, bis sie das Gartenhaus mit ihrem Werk wieder verlässt. Sie legt ihrem Mann den Mantel um und tiefes Glücksgefühl ergreift sie. “Sie schaute ihn an, und die Sehnsucht ihrer Seele und die Sehnsucht ihres Herzens brannten gleichzeitig in ihren Augen.” 78 Als sie sich ihm aber nähern will, stellen ihre Träume, die Berge, die Feen und die Drachen sich ihr in den Weg, und Kaiserin und Kaiser können nicht zusammenkommen. “Das ganze weite Traumland war zwischen ihr und dem Kaiser, und sie konnte zu dem Kaiser nicht kommen.” 79 Da will der Kaiser den Mantel nicht tragen. Doch Näi-Fe lässt ihn wählen: “Legst Du den Mantel ab, dann kannst Du mich in den Armen halten, aber meine Seele muß weit weg von Dir sein. Legst Du den Mantel an, dann bist Du unnahbar, und ich kann zu Dir nicht kommen. Aber die Sehnsucht meiner Seele wird mit meinen Blicken auf Dir ruhen - immerfort.” 80 Kaiser Ming-Huang entscheidet sich für die Beziehung der 75 Ebd., S. 503. 76 Béla Balázs, Der Mantel der Träume. Chinesische Novellen. München: Bischoff, 1922. 77 Ebd., S. 2. 78 Ebd., S. 5. 79 Ebd. 80 Ebd. 321
Seelen. Nie sieht man sie mehr zusammen. Doch wenn er den Mantel trägt, geht Näi-Fe in großer Entfernung hinter ihm her, “und ihr Blick ruhte mit der Sehnsucht ihrer Seele auf ihm”. 81 Wie der Zauberspiegel der alten ungarischen Märchen holt der Mantel Berge und Flüsse, Zauberwesen und Gärten von weit her, aus der Ferne der Sehnsucht, in die Reichweite des Blicks, und verstellt damit zugleich die Gestalt der physischen Erfüllung, als die die einander auf ewig geschworene Liebe figuriert. Nur aus der Distanz des begehrenden Blicks, in einer gleichbleibenden Entfernung gebannt, vermag der Wunsch, vermögen die imganierten Traumwelten mit dem realen Objekt einer Beziehung, dem geliebten Manne eins zu werden. Balázs hat sich für eine andere Realisierung des “identischen Subjekt-Objekt” entschieden als Georg Lukács. Nicht die Hereinnahme der empirischen Welt ins Subjekt und damit die Auslöschung jeder Gegenständlichkeit, nicht die Apokalypse der Revolution, sondern die Projektion der Seele, der Wünsche und Träume ins bzw. auf das Objekt, ist sein Weg, das “identische Subjekt-Objekt” zu denken. Freilich: auch Balázs weiß, dass dies nur im Reich der ästhetischen Produktion möglich ist - und dies mit einer verblüffenden Konsequenz. Die Projektion der Träume auf die Leinwand des kaiserlichen Mantels löst ebenfalls das Objekt auf, verwandelt Gegenständlichkeit in ein immaterielles Medium, ein Medium, das sich auflöst, wenn man es berühren will. So verschmelzen das projektive Traum-Bild und sein Träger, das reale Objekt des Begehrens, zu jenen schwebenden Vorhängen, von denen Balázs schon 1907 in Berlin geschrieben hatte, zu schwebenden, flüchtigen Bildern. Nur wenige Tage, bevor Balázs sein erstes realisiertes Drehbuch schrieb, und ein Jahr bevor er als Filmkritiker begann eine neue Epoche der Filmtheorie einzuläuten, hatte Balázs in einem kleinen Märchen den Kern einer bis heute aktuellen Theoretisierung der neuen Kunst formuliert. Der Film als Projektion des Wunsches, des Traumes in ein immaterielles Bild. Er selbst kam dem Zentrum des Phänomens, um das sich seine wichtigsten Schriften bis zum Ende seines Lebens drehen sollten, wahrscheinlich nie mehr so nahe wie in diesen rauschhaften Tagen im Herbst 1921. Wie nahe er ihm kam und wie fern er ihm blieb, ist der Gegenstand der folgenden, abschließenden Kapitel. 81 Ebd., S. 6. 322
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Seelen. Nie sieht man sie mehr zus<strong>am</strong>men. Doch wenn er den Mantel trägt, geht Näi-Fe in großer<br />
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Wie der Zauberspiegel der alten ungarischen Märchen holt der Mantel Berge und Flüsse,<br />
Zauberwesen und Gärten von weit her, aus der Ferne der Sehnsucht, in die Reichweite des Blicks,<br />
und verstellt d<strong>am</strong>it zugleich die Gestalt der physischen Erfüllung, als die die einander auf ewig<br />
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Lukács. Nicht die Hereinnahme der empirischen Welt ins Subjekt und d<strong>am</strong>it die Auslöschung jeder<br />
Gegenständlichkeit, nicht die Apokalypse der Revolution, sondern die Projektion der Seele, der<br />
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denken. Freilich: auch Balázs weiß, dass dies nur im Reich der ästhetischen Produktion möglich ist -<br />
und dies mit einer verblüffenden Konsequenz. Die Projektion der Träume auf die Leinwand des<br />
kaiserlichen Mantels löst ebenfalls das Objekt auf, verwandelt Gegenständlichkeit in ein immaterielles<br />
Medium, ein Medium, das sich auflöst, wenn man es berühren will. So verschmelzen das projektive<br />
Traum-Bild und sein Träger, das reale Objekt des Begehrens, zu jenen schwebenden Vorhängen,<br />
von denen Balázs schon 1907 in Berlin geschrieben hatte, zu schwebenden, flüchtigen Bildern.<br />
Nur wenige Tage, bevor Balázs sein erstes realisiertes Drehbuch schrieb, und ein Jahr bevor er als<br />
Filmkritiker begann eine neue Epoche der Filmtheorie einzuläuten, hatte Balázs in einem kleinen<br />
Märchen den Kern einer bis heute aktuellen Theoretisierung der neuen Kunst formuliert. Der Film als<br />
Projektion des Wunsches, des Traumes in ein immaterielles Bild. Er selbst k<strong>am</strong> dem Zentrum des<br />
Phänomens, um das sich seine wichtigsten Schriften bis zum Ende seines Lebens drehen sollten,<br />
wahrscheinlich nie mehr so nahe wie in diesen rauschhaften Tagen im Herbst 1921. Wie nahe er ihm<br />
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