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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Lukács, der sich in der Nähe von Menton an der Cote Azur aufhält: „Ich höre Bergson. Ein direktes,<br />

intellektuelles, gutes Gefühl, wie z.B. eine gute Frucht zu essen. Er ist frischer als Simmel. Ich möchte<br />

ihn gerne kennenlernen.“ 69 In seinem Tagebuch fällt der N<strong>am</strong>e Bergson erst im Mai 1912 in Berlin,<br />

auf eine für Balázs bezeichende Weise:<br />

„Vor einigen Tagen war ich bei Simmel zu Abendessen. Dr. Gertrud Kantorowitz war da. Es stellte<br />

sich heraus, sie ist eine kluge, feine Frau und dass sie sich für mich sehr interessiert. Ich begleitete sie<br />

nach Hause und habe mein ganzes Wesen, all das Flehen nach Leben, das gerade in mir steckte über<br />

sie ausgeschüttet. Ich wollte, dass sie mich liebt. [...] Drei Tage danach war ich bei ihr zu Tee und ich<br />

setzte es fort. [...] Ihr kleines Gartenhaus war schön, die Blumen waren schön, der Gitterzaun, den<br />

sie selbst grün malt. Die Küche, in der wir Tee trinken und Butterbrote essen, und auch die hl.<br />

Katharina und die hl. Theresa in ihrer Bibliothek, und sie übersetzt Bergson L’évolution créatrice. Es<br />

gibt einen Menschen mehr auf der Welt.“ 70<br />

Bergson stellte in L’évolution créatrice die Materie, interpretiert als physische Realisation des 2.<br />

Satzes der Thermodyn<strong>am</strong>ik - der Entropie also, des fortwährenden Vergehens der Energie - dem<br />

Prinzip des Lebens und der Schöpfung entgegen, deren Bestreben es sei, Energie zu speichern und<br />

deren gesteigertes, explosives Verströmen zu ermöglichen. „Das ganze Leben von jenem Urimpuls<br />

an, der es in die Welt geschleudert hat, wird ihr als eine ansteigende, der niedersteigenden Bewegung<br />

der Materie entgegengestemmte Woge sichtbar.“ 71<br />

So erscheint der Tod also erst recht als ekstatische Begegnung von Materie und jenem Elan vital,<br />

den Gertrud Kantorowitz wenig elegant mit „Lebensschwungkraft“ übersetzte. 72 Es ist das<br />

Schlusskapitel dieses Buches: „Der kinematographische Mechanismus des Denkens...“, den Gilles<br />

Deleuze zum Ausgangspunkt seines filmtheoretischen Werkes genommen hat. Bergson selbst hat sich<br />

1914 in einem kurzen Beitrag zum dokumentarischen, die Wahrnehmung schärfenden „Wert des<br />

Kinos“ geäußert und auf seine Argumentation in L’évolution créatrice angespielt: „So ist z.B. das<br />

69<br />

Balázs an Georg Lukács, 25.1.1912, in: Balázs Béla levelei Lukács Györgyhöz [Briefe von Béla Balázs an Georg<br />

Lukács]. Hg. von Júlia Lenkei. Budapest: MTA Filozófiai Intézet, 1982, S. 75.<br />

70<br />

Balázs, Napló 1903-1914, S. 572f. Eintrag vom 23.5.1912.<br />

71<br />

Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung. Jena: Diederichs Verlag, 1921 [Originalausgabe: L’évolution<br />

créatrice, 1907], S. 273.<br />

72<br />

Auch sonst waren einige Wortschöpfungen nötig, um Bergsons Ideen den deutschen Lesern zu vermitteln, wie<br />

z.B. das Prinzip der „Entwerdung“, oder der „Wollung“.<br />

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