12.12.2012 Aufrufe

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

und es weiß auch nichts vom Tod. Schon hier, wie später in fatalistischer Form in Arnold Gehlens<br />

philosophischer Anthropologie des Menschen als „Mängelwesens“ 66 , erweist sich diese Sphäre der<br />

Indeterminiertheit, jener Status der Freiheit als <strong>am</strong>bivalent, als Defizienz, als wachsender Mangel<br />

instinktiver Sicherheit, die die Entwicklung des Lebens zu höheren Formen, bis hin zum Menschen,<br />

prägen würde. So bedeute der Erwerb eines Gedächtnisses und d<strong>am</strong>it eines Bewusstseins nicht nur<br />

Freiheit, sondern zugleich eine neue Form des Zwangs, der Notwendigkeit, die Umwelt mit<br />

technischen Mitteln zu bearbeiten. Bergson versucht die Unbarmherzigkeit dieser Entwicklung hin zu<br />

einer Zweiten Natur noch durch die Validierung der „Intuition“ zu mildern, gar aufzulösen. Georg<br />

Simmel hat Schöpferische Entwicklung wie auch Zeit und Freiheit in diesem Sinne emphatisch<br />

rezipiert und zugleich kritisiert: als Philosophie der Intuition. 67<br />

Balázs selbst verbindet die Figur der Intuition in der „Todesästhetik“ mit Hinweisen auf eine noch zu<br />

entwickelnde Theorie der Physiognomie, die ebenfalls auf Simmel verweist: „Wofür ich noch kein<br />

Wort habe und auch keine Gedanken, das kann schon in einem Gesichtsausdruck erscheinen. Und<br />

all das, was in der Menschenseele erst im Keimen ist und im Wachsen, kann ich in einer Geste<br />

spüren, in einer gebauten Form, in einem gezeichneten Orn<strong>am</strong>ent.“ 68<br />

In persönliche Berührung mit Bergson scheint Balázs erst im Winter 1911/1912 während seines<br />

zweiten längeren Parisaufenthaltes gekommen zu sein. Am 25. Januar 1912 schreibt er an Georg<br />

65 Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. Jena:<br />

Diederichs Verlag, 1920 [Originalausgabe: Essai sur les données immédiates de la conscience, 1888].<br />

66 „Wir haben [...] den ‘Entwurf’ eines organisch mangelhaften, deswegen weltoffenen, d.h. in keinem bestimmten<br />

Ausschnitt-Milieu natürlich lebensfähigen Wesens [...].“ (Arnold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine<br />

Stellung in der Welt. 8. Auflage. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>/Bonn: Athenäum, 1966 [1940], S. 24) Gehlen verbindet schon<br />

kurz darauf diese Einschätzung mit einer fatalistischen Theorie der „Zweiten Natur“: „Der Mensch ist also<br />

organisch ‘Mängelwesen’ (Herder), er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und so muß er sich sich<br />

eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden<br />

organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. [...] Man kann<br />

auch sagen, daß er biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen ist.“ (Arnold Gehlen, „Ein Bild vom Menschen“<br />

[1942], in: ders., Anthropologische Forschung. Reinbek: Rowohlt, 1961, S. 48. Vgl. auch Arnold Gehlen, Die Seele<br />

im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. H<strong>am</strong>burg: Rowohlt,<br />

1957, S. 8f.) Gehlen unterschlägt, dass neben der Kompensation des körperlichen Mangels durch Technik vor<br />

allem die Herausbildung sozialer Kompetenzen und emotionaler Bindungsfähigkeit die natürliche „Schwäche“ und<br />

Lebensunfähigkeit des Menschen überwindet.<br />

67 Vgl. Georg Simmel, Zur Philosophie der Kunst. Potsd<strong>am</strong>: Gustav Kiepenheuer, 1922, S. 126ff.; sowie Georg<br />

Simmel, Der Konflikt der Modernen Kultur. Ein Vortrag. München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1926, S. 19f. Zu<br />

Simmels Bergson-Rezeption siehe auch das dritte Kapitel dieser Arbeit.<br />

68 Balázs, „Halálesztétika“, S. 327. Vgl. Georg Simmel, „Die ästhetische Bedeutung des Gesichts“ [1901], in: ders.,<br />

Das Individuum und die Freiheit. Essays. Berlin: Wagenbach, 1984. Hier entwickelt Simmel eine Ästhetik der<br />

„inneren Einheit“, des Vorrangs des Ganzen vor den Teilen. „Innerhalb des menschlichen Körpers besitzt das<br />

Gesicht das äußerste Maß dieser inneren Einheit.“ (S. 140) „Der Körper kann seelische Vorgänge allerdings durch<br />

seine Bewegung ausdrücken, vielleicht ebenso gut wie das Gesicht. Allein nur in diesem gerinnen sie zu festen,<br />

die Seelen ein für allemal offenbarenden Gestaltungen.“ (S. 142)<br />

14

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!