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solche politisch nicht mehr auf den Plan. 200 Die sozialdemokratischen Führer sehen in der bestehenden Konstellation keine Überlebenschance mehr. Während des Parteikongresses inszeniert Kun einen kommunistischen Putschversuch in Wien, der am 15. Juni kläglich scheitert. Mehr Erfolg hingegen scheint das Vorgehen der ungarischen Armee in der Slowakei zu bringen, wo am 16. Juni in Kassa (heute: Kosice, Slowakei; dt.: Kaschau) eine Slowakische Räterepublik ausgerufen wird. Am selben Tag beginnt in Budapest ein neuntägiger Kongress der Räte, der sich nun mit einer neuen Note der Alliierten mit der Unterschrift Clemenceaus auseinandersetzen muss. Clemenceau fordert den sofortigen Rückzug der ungarischen Truppen aus der Slowakei und bietet die Einstellung aller Kampfhandlungen, einschließlich der rumänischen Truppen an. Während die kommunistischen Radikalen um Szamuely die Fortsetzung des Kriegs fordern, willigt Kun in Clemenceaus Ultimatum ein, um eine Atempause im Innern zu gewinnen. Doch dies führt nur zu fortschreitendem Verfall der Autorität der Regierung. Vilmos Böhm gibt die Führung der Armee auf und große Teile der mobilisierten Arbeiter kehren nach Budapest zurück, während die Rumänen aus ihren Stellungen keineswegs abziehen. Admiral Horthys weiße Gegenregierung in Szeged verstärkt ihre Propaganda, die nun auch in Budapest beginnt, Wirkung zu zeigen. Antisemitische Parolen machen es großen Teilen der Bevölkerung leicht, sich von den „wahren Schuldigen“ der Diktatur zu distanzieren, „charges of ‘Jewish conspiracy’ fell on fertile soil among the strongly anti-Semitic Hungarians“ 201 , wie Rudolf Tökés schreibt. Böhm, Kunfi und andere Sozialdemokraten 202 treten nach der Annahme der Clemenceau-Note am 21. Juni aus der Regierung aus und planen, eine Zunahme des Terrors befürchtend, nun einen bewaffneten Handstreich, um die Kommunisten aus der Regierung zu entfernen und eine neue Regierung auf der Basis der Gewerkschaften zu installieren. Doch dazu kommt es nicht. Stattdessen revoltieren am 24. Juni Angehörige des Militärs, unterstützt von Kanonenbooten auf der Donau. Auch Arbeiter beteiligen sich an dem Aufstand, der jedoch binnen 24 Stunden niedergeschlagen wird. In Budapest bleiben Terroraktionen gegen die Geschlagenen weitgehend aus. Ervin Sinkó setzt sich mit dem Vorschlag durch, die arrestierten Militär-Kadetten nicht zu exekutieren, sondern sie unter seiner persönlichen Führung einer vierwöchigen Schulung in Marxismus zu unterziehen. 200 Vgl. Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 195, Anm. 35. 201 Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 193. 202 Darunter Péter Ágoston, der als Stellvertreter Kuns im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten amtierte. 301

Im Westen kommt es nun zu bewaffneten Bauernrevolten, die von Tibor Szamuely blutig niedergeschlagen werden. Kun schickt unterdessen sechs Divisionen gegen Rumänien ins Feld, doch die Führung von drei von ihnen beginnt, mit Agenten der Gegenregierung in Szeged zu konspirieren. Während der vergangenen Monate hatte sich Kun eine entscheidende Wendung durch die in der Ukraine vorrückenden sowjetischen Armeen erhofft, mit denen in der Slowakei eine Verbindung aufgebaut werden sollte. Der sowjetische Vormarsch war Ende März zunächst in diese Richtung umgeleitet worden, aber bald darauf ins Stocken geraten. Immer wieder hatten die Ungarn Moskau um eine Verstärkung der militärischen Anstrengungen ersucht. Kun ergeht sich gegenüber Lenin in Vermutungen über mögliche gezielte Sabotage; Beschuldigungen, die Lenin brüsk zurückweist. Im Mai ist klar, dass mit einer Begegnung zwischen den Ungarn und einer durch die Ukraine bis zur Slowakei vorstoßenden sowjetischen Armee nicht mehr zu rechnen ist. Ende Juli, die Rätediktatur ist im Innern schon in weitgehender Auflösung begriffen, sendet Béla Kun einen letzten Hilferuf an Lenin und fordert ultimativ einen sowjetischen Entlastungsangriff auf das rumänische Bessarabien. Die Antwort, die er am 31. Juli erhält, ist ernüchternd. Endre Rudnyánszky kabelt ihm: „Wir tun unser möglichstes um unseren ungarischen Freunden zu helfen, aber unsere Kräfte sind schwach.“ 203 Am 1. August treffen sich der Rat der Volkskommissare und die Partei-Exekutive zu einer gemeinsamen Sitzung und beschließen, gegen die Forderung Tibor Szamuelys, den bewaffneten Kampf fortzusetzen, ihren Rücktritt und die Übergabe der Regierung an ein gemäßigt sozialdemokratisches Kabinett. Béla Kun hält vor den Budapester Arbeiter- und Soldatenräten eine letzte Ansprache. „Das Proletariat, das unzufrieden war mit unserer Regierung, das, trotz aller Agitation, in seinen eigenen Fabriken ausrief ‘Nieder mit der Diktatur des Proletariats’, wird noch unzufriedener sein, mit allen Regierungen der Zukunft. [...] Nun sehe ich, dass unser Experiment, die proletarischen Massen dieses Landes zu klassenbewussten Revolutionären zu erziehen vergebens war. Dieses Proletariat braucht die unmenschlichste und grausamste Diktatur der Bourgeoisie um revolutionär zu werden.“ 204 Béla Kun hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen safe-conduct ausgehandelt, der ihm und einem handverlesenen Kreis von Getreuen die sichere Ausreise nach Wien unter diplomatischer Immunität garantierte. Zu den wenigen Führern der Rätediktatur, die von ihm zurückgelassen wurden, gehört 203 Zit. nach Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 203. 204 Zit. nach ebd., S. 204. 302

solche politisch nicht mehr auf den Plan. 200 Die sozialdemokratischen Führer sehen in der<br />

bestehenden Konstellation keine Überlebenschance mehr.<br />

Während des Parteikongresses inszeniert Kun einen kommunistischen Putschversuch in Wien, der<br />

<strong>am</strong> 15. Juni kläglich scheitert. Mehr Erfolg hingegen scheint das Vorgehen der ungarischen Armee in<br />

der Slowakei zu bringen, wo <strong>am</strong> 16. Juni in Kassa (heute: Kosice, Slowakei; dt.: Kaschau) eine<br />

Slowakische Räterepublik ausgerufen wird. Am selben Tag beginnt in Budapest ein neuntägiger<br />

Kongress der Räte, der sich nun mit einer neuen Note der Alliierten mit der Unterschrift<br />

Clemenceaus auseinandersetzen muss. Clemenceau fordert den sofortigen Rückzug der ungarischen<br />

Truppen aus der Slowakei und bietet die Einstellung aller K<strong>am</strong>pfhandlungen, einschließlich der<br />

rumänischen Truppen an. Während die kommunistischen Radikalen um Sz<strong>am</strong>uely die Fortsetzung<br />

des Kriegs fordern, willigt Kun in Clemenceaus Ultimatum ein, um eine Atempause im Innern zu<br />

gewinnen. Doch dies führt nur zu fortschreitendem Verfall der Autorität der Regierung. Vilmos Böhm<br />

gibt die Führung der Armee auf und große Teile der mobilisierten Arbeiter kehren nach Budapest<br />

zurück, während die Rumänen aus ihren Stellungen keineswegs abziehen. Admiral Horthys weiße<br />

Gegenregierung in Szeged verstärkt ihre Propaganda, die nun auch in Budapest beginnt, Wirkung zu<br />

zeigen. Antisemitische Parolen machen es großen Teilen der Bevölkerung leicht, sich von den<br />

„wahren Schuldigen“ der Diktatur zu distanzieren, „charges of ‘Jewish conspiracy’ fell on fertile soil<br />

<strong>am</strong>ong the strongly anti-Semitic Hungarians“ 201 , wie Rudolf Tökés schreibt.<br />

Böhm, Kunfi und andere Sozialdemokraten 202 treten nach der Annahme der Clemenceau-Note <strong>am</strong><br />

21. Juni aus der Regierung aus und planen, eine Zunahme des Terrors befürchtend, nun einen<br />

bewaffneten Handstreich, um die Kommunisten aus der Regierung zu entfernen und eine neue<br />

Regierung auf der Basis der Gewerkschaften zu installieren. Doch dazu kommt es nicht. Stattdessen<br />

revoltieren <strong>am</strong> 24. Juni Angehörige des Militärs, unterstützt von Kanonenbooten auf der Donau.<br />

Auch Arbeiter beteiligen sich an dem Aufstand, der jedoch binnen 24 Stunden niedergeschlagen<br />

wird. In Budapest bleiben Terroraktionen gegen die Geschlagenen weitgehend aus. Ervin Sinkó setzt<br />

sich mit dem Vorschlag durch, die arrestierten Militär-Kadetten nicht zu exekutieren, sondern sie<br />

unter seiner persönlichen Führung einer vierwöchigen Schulung in Marxismus zu unterziehen.<br />

200 Vgl. Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 195, Anm. 35.<br />

201 Tökés, Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic, S. 193.<br />

202 Darunter Péter Ágoston, der als Stellvertreter Kuns im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten<br />

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