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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Wichtiger schien Balázs eine andere Maßnahme: im April 1919 richtet er im Volkskommissariat eine<br />

Abteilung für Märchen ein und übergibt deren Leitung Anna Lesznai. In Spätherbst in Eden<br />

beschreibt Lesznai ihren „Arbeitsplatz“: „Erlebnis erweist sich doch stärker als Urteilskraft. Zwar<br />

lehnte Liso die politische Struktur in ihrer Ges<strong>am</strong>theit ab, von Einzelheiten hingegen wurde sie mehr<br />

und mehr gefesselt. Wie so viele, ergriff auch sie der Rausch des Schaffens aus dem Nichts. [...] Eine<br />

Märchenzeitschrift war geplant, die die schönsten Volksmärchen aus aller Welt bringen sollte. Wer<br />

denkt da an Papiermangel oder an die Berechnung der Herstellungskosten? [...] Dem Kern des<br />

Märchens kann man nichts anhaben, soviele Wandlungen es auch durchmacht. Man kann es jedoch<br />

auf hunderterlei Arten zubereiten. Vor Jahren schon hatten Liso und György das geplant: eine neue<br />

Form des Märchens, durch die das Wunder ins Leben der Gegenwart gebracht würde, d<strong>am</strong>it das<br />

Kind ihm auch auf der Straße in der Stadt begegne. [...] so war es doch herrlich, daß dem Märchen<br />

endlich hohe Ehre zuteil wurde. Im düsteren Gebäude des Kulturkommissariats hatte es eine eigene<br />

Abteilung erhalten. Und an ihrer Spitze stand die dazu <strong>am</strong> besten geeignete, die dazu geborene<br />

Persönlichkeit: Liso Berkovics.“ 186 Am 15. April meldet die Volksstimme den Erlass des<br />

Volkskommissariats, dass in sämtlichen Schulen des Landes regelmäßig „hübsche und lehrreiche<br />

Märchen“ 187 für die Schuljugend unter 14 Jahren vorgetragen werden sollen. Auch in die<br />

Kinderkrankenhäuser schicken Lesznai und Balázs Märchenerzähler, und im Juli veranstalten sie ein<br />

Preisausschreiben für neue originelle Märchen.<br />

Doch bald scheint auch Kritik an dieser Form der Volksbildung laut zu werden. Balázs sieht sich<br />

gezwungen, die Aktivitäten der „Märchenabteilung“ in dem vom Volkskommissariat selbst<br />

herausgegebenen kulturellen Tageblatt Fáklya zu rechtfertigen. „Nehmt den Kindern nicht das<br />

Märchen“, ruft er aus und verwahrt sich gegen den Vorwurf, die Märchen schürten abergläubische<br />

Phantasien statt „Kenntnis der Gesellschaft“ 188 , erzählten „von Königen und Prinzessinnen“ und seien<br />

daher „ein typisches Überbleibsel der kapitalistischen Ideologie“. 189 Balázs hält dagegen, dass sich<br />

die Märchenvision in den Kindern von selbst formen würde. „Das Kind sieht um sich herum<br />

186 Lesznai, Spätherbst in Eden, S. 621.<br />

187 „Märchenvorträge in den Schulen“, in: Lukács, Taktik und Ethik, S. 274 [zuerst in: Volksstimme, 15.4.1919].<br />

188 Béla Balázs, „Ne vegyétek el a gyermekektöl a mesét“ [Nehmt den Kindern nicht das Märchen], in: Befunde und<br />

Entwürfe. Zur Entwicklung der ungarischen marxistischen Literaturkritik und Literaturtheorie (1900-1945).<br />

Eingel. und komment. von László Illés, Farkas József, Miklós Szabolcsi. Deutsche Ges<strong>am</strong>tredaktion Georg Lück.<br />

Berlin: Akademie-Verlag, 1984, S. 125 [zuerst in: Fáklya [Fackel], Nr. 111, 11.5.1919].<br />

189 Ebd.<br />

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