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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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gegeneinander wenden müssen.“ 59 So erscheint Balázs die Tragödie, das dr<strong>am</strong>atische Prinzip der<br />

Paradoxie, des „zwangsläufigen Widerspruchs“ 60 , in dem sich der Held wie in einem Schwindel<br />

verliert, schließlich als Inbegriff des religiösen Rausches, als Ritual, und zugleich als „Krönung aller<br />

Künste“. „Deshalb war sie einst eine bewusst religiös-symbolische Zeremonie.“ 61<br />

Tod und Paradoxie zugleich, so stellt sich ihm nun die höchste Steigerung des Bewusstseins des<br />

Lebens dar, die Auflösung des Subjekts auf dem Gipfel seiner „Indeterminiertheit“. Balázs’ tragischer<br />

Held findet in der Todesverachtung - also der Überwindung des Schreckens vor dem Jenseits - und<br />

zugleich in der Figur der Paradoxie - jenen Momenten also „wo es keine Orientierung gibt“ 62 , keine<br />

Notwendigkeit, sondern nur noch Willkür - zur Apotheose des Lebens.<br />

Wie sehr sich diese Denkfiguren mit Henri Bergsons 63 Theorien über die „Indeterminiertheit“ des<br />

Lebens berührten, war Balázs zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch kaum bewusst. Materie und<br />

Gedächtnis, in dem Bergson seine Theorie der „Lebewesen im Weltall als ‘Zentren der<br />

Indeterminiertheit’“ 64 entwickelte, wie auch sein Buch Zeit und Freiheit 65 , in dem Bergson den<br />

komplementären Begriff der „durée“ entfaltete, hat Balázs zum d<strong>am</strong>aligen Zeitpunkt, wenn<br />

überhaupt, wohl nur über Simmels Bergson-Rezeption kennengelernt.<br />

Auf den für Bergson so zentralen Begriff der „durée“, der „Dauer“, hat Balázs später, von seiner<br />

Filmtheorie bis hin zu seiner 1940 begonnenen Jugendautobiographie, wiederholt explizit Bezug<br />

genommen. Und dies auch dann noch, als Bergson von der marxistischen Theorie längst verfemt<br />

worden war.<br />

1907, also im gleichen Jahr wie die „Todesästhetik“, erschien Bergsons Buch L’évolution créatrice<br />

(Schöpferische Entwicklung), in dem er seine Theorie der Indeterminiertheit präzisierte: als<br />

Tendenz des Lebens, die im Menschen, in der Befreiung von der Fessel der Instinkte sich vollende.<br />

Anders als der Mensch, so hebt Bergson hervor, weiß das Tier nichts von der Freiheit der Wahl,<br />

59<br />

Ebd., S. 312.<br />

60<br />

Ebd. In seinem Tagebuch notiert Balázs hingegen noch im November: „Ich habe die Paradoxie immer als<br />

Perversität empfunden. Die Hälfte des Paradox ist immer überflüssig, ist nicht natürlicherweise vorhanden,<br />

sondern künstlich eingesetzt, um die Aufregung zu steigern.“ (Balázs, Napló 1903-1914, S. 364, Eintrag vom<br />

24.11.1906)<br />

61<br />

Balázs, „Halálesztétika“, S. 313.<br />

62<br />

Ebd., S. 312.<br />

63<br />

Henri Bergson (1859-1941), französischer Philosoph, Professor <strong>am</strong> Collège de France und Mitglied der<br />

Akademie, seine Arbeiten hatten großen Einfluss auf die Lebensphilosophie. 1927 erhielt Bergson den Nobelpreis<br />

für Literatur.<br />

64<br />

Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>/Berlin/Wien: Ullstein, 1982 [Originalausgabe:<br />

Matière et mémoire, 1896], S. 21.<br />

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