Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Indem das Märchen „die Verhältnisse von Begriffen und intentionalen Gegenständen“ 133 radikal verändert, eine „erlöste Welt“ 134 schafft, verbürgt es uns, dass die Wirklichkeit in der wir leben „nicht die einzige mögliche Wirklichkeit ist“ 135 , sondern eine von unendlich vielen. Diese Befreiung aus dem Gefängnis unserer Wirklichkeit ist freilich ein mehrdeutiger, „melancholischer“ Trost. Denn Lukács zieht daraus zwei paradox zueinander stehende Schlüsse: „Die Befreiung weist, wie wir sahen, in zwei Richtungen.“ 136 Zunächst einmal versöhnt uns dieser Blick hinter die Kulissen der Wirklichkeit nur aufs Neue mit ihr, die wir nun mit einem „neuen Akzent: den der Erwähltheit“ 137 zu affirmieren vermögen, denn „dann kann sie für uns kein Kerker mehr sein.“ Es ist dies die Befreiung durch Initiation, und Lukács beschreibt diese Legitimation der einen, realisierten Wirklichkeit unter der „Unendlichkeit der möglichen Welten“ 138 wie Hans Blumenberg. „Es ist ein entscheidender Unterschied,“ schreibt Blumenberg, “ob wir das Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen haben oder ob wir es als den Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeit wiederfinden und in freiwilliger Einwilligung anerkennen können.“ 139 Indem das Märchen dieses Wiedereinschwören auf das Gegebene, die Reakkomodation des Initianden an die Wirklichkeit als Akt primärer Symbolbildung rituell vollzieht, vermag sie dieses Paradox einer konditionierten Freiwilligkeit zu überdecken. Darin aber liegt die paradoxe Form des Rituals selbst begründet. Indem es den Initianden seinen Regeln unterwirft, ermöglicht es ihm, die Wirklichkeit als eine für ihn Bedeutsame zu erfahren, seine sinnlich-symbolischen Interaktionsformen mit den Anforderungen einer neuen Situation in Einklang zu bringen. Das Märchen verweist für Lukács aber auch auf ein anderes denkbares Verhältnis zur Welt des Gegebenen: die Revolution. Verweise das Märchen als Form auf einen Zustand vor der Geschichte, so sei seine Schöpfung dennoch ein historischer, an bestimmte Epochen geknüpfter Akt, „Epochen der wirklichen, inneren Schicksalswenden der Welt - für die der Weg der Wirklichkeit seine eindeutige Richtung verliert, in denen es scheint, als würden wir erneut vor die Wahl gestellt“. 140 Zeiten sind dies, in denen sich die verfestigten Formen der menschlichen Lebensäußerungen auflösen, in denen die Erinnerung wieder lebendig wird, an jenen Zustand, als noch mehrere Wirklichkeiten 133 Ebd., S. 113. 134 Ebd., S. 112. 135 Ebd., S. 111. 136 Ebd., S. 111. 137 Ebd. 138 Hans Blumenberg, „Nachahmung der Natur“, S. 89. 139 Ebd., S. 94. 257

möglich waren. „Die Zeitalter wirklicher Märchenfindung können deshalb nur die Zeitalter der Auflockerung der Wirklichkeit sein.“ 141 Es sei, so stellt Lukács den geschichtsphilosophischen Status des Märchens vermeintlich wieder auf die Füße, das Kennzeichen einer objektiv revolutionären Situation, „dieses Aggregatzustands der Wirklichkeit“, dass aus ihm sich die Möglichkeit erst ergibt, „für jene, die dazu bestimmt sind, erneut Märchen zu finden: denn gegenüber dieser unserer noch nicht besiegelten Wirklichkeit ist das Erlebnis der zu wählenden und der gewählten Wirklichkeit möglich, das Erlebnis jener Wirklichkeit, die aus den Märchenmöglichkeiten auftauchen, um die unsere zu werden“. 142 Als solches sind Balázs’ Märchen für Lukács ein Indiz, nicht mehr und nicht weniger, für eine welthistorische Zeitenwende, ein Zustand der Gärung, die Ahnung eines radikal Neuen. Der Held des Märchens vermag sich nur in einem Zwischenreich imaginärer Erlösung verirrt haben, doch die mit dem Schein einer realen Alternative verbundene Lockerung der Realität öffnet diese für eine „wirkliche“ neue Wirklichkeit. So sind die Märchen für Lukács Realitätsversicherung und Signum der Utopie zugleich, Heimkehr zu sich selbst und an jene Ursprungswelt vor dem Ursprung, jenes goldene Zeitalter außerhalb der Zeit, von dem er schon in seinem Novalis-Essay von 1907 geschrieben hatte: „[E]s müsse eine Zeit kommen, die keine Unmöglichkeit mehr kennt.“ 143 140 Ebd., S. 115f. 141 Ebd., S. 115. 142 Ebd., S. 116. 143 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 72. 258

Indem das Märchen „die Verhältnisse von Begriffen und intentionalen Gegenständen“ 133 radikal<br />

verändert, eine „erlöste Welt“ 134 schafft, verbürgt es uns, dass die Wirklichkeit in der wir leben „nicht<br />

die einzige mögliche Wirklichkeit ist“ 135 , sondern eine von unendlich vielen. Diese Befreiung aus dem<br />

Gefängnis unserer Wirklichkeit ist freilich ein mehrdeutiger, „melancholischer“ Trost. Denn Lukács<br />

zieht daraus zwei paradox zueinander stehende Schlüsse: „Die Befreiung weist, wie wir sahen, in<br />

zwei Richtungen.“ 136 Zunächst einmal versöhnt uns dieser Blick hinter die Kulissen der Wirklichkeit<br />

nur aufs Neue mit ihr, die wir nun mit einem „neuen Akzent: den der Erwähltheit“ 137 zu affirmieren<br />

vermögen, denn „dann kann sie für uns kein Kerker mehr sein.“ Es ist dies die Befreiung durch<br />

Initiation, und Lukács beschreibt diese Legitimation der einen, realisierten Wirklichkeit unter der<br />

„Unendlichkeit der möglichen Welten“ 138 wie Hans Blumenberg. „Es ist ein entscheidender<br />

Unterschied,“ schreibt Blumenberg, “ob wir das Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen<br />

haben oder ob wir es als den Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeit<br />

wiederfinden und in freiwilliger Einwilligung anerkennen können.“ 139 Indem das Märchen dieses<br />

Wiedereinschwören auf das Gegebene, die Reakkomodation des Initianden an die Wirklichkeit als<br />

Akt primärer Symbolbildung rituell vollzieht, vermag sie dieses Paradox einer konditionierten<br />

Freiwilligkeit zu überdecken. Darin aber liegt die paradoxe Form des Rituals selbst begründet. Indem<br />

es den Initianden seinen Regeln unterwirft, ermöglicht es ihm, die Wirklichkeit als eine für ihn<br />

Bedeuts<strong>am</strong>e zu erfahren, seine sinnlich-symbolischen Interaktionsformen mit den Anforderungen<br />

einer neuen Situation in Einklang zu bringen.<br />

Das Märchen verweist für Lukács aber auch auf ein anderes denkbares Verhältnis zur Welt des<br />

Gegebenen: die Revolution. Verweise das Märchen als Form auf einen Zustand vor der Geschichte,<br />

so sei seine Schöpfung dennoch ein historischer, an bestimmte Epochen geknüpfter Akt, „Epochen<br />

der wirklichen, inneren Schicksalswenden der Welt - für die der Weg der Wirklichkeit seine<br />

eindeutige Richtung verliert, in denen es scheint, als würden wir erneut vor die Wahl gestellt“. 140<br />

Zeiten sind dies, in denen sich die verfestigten Formen der menschlichen Lebensäußerungen auflösen,<br />

in denen die Erinnerung wieder lebendig wird, an jenen Zustand, als noch mehrere Wirklichkeiten<br />

133<br />

Ebd., S. 113.<br />

134<br />

Ebd., S. 112.<br />

135<br />

Ebd., S. 111.<br />

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Ebd., S. 111.<br />

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Ebd.<br />

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Hans Blumenberg, „Nachahmung der Natur“, S. 89.<br />

139 Ebd., S. 94.<br />

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