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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Unternehmung führt zum Erfolg, sondern das völlige Preisgegebensein.“ 90 Der Märchenheld ist häufig<br />

eine verirrte, schutzlose, verlorene, mitunter defiziente Gestalt von „nachtwandlerischer Sicherheit“. 91<br />

Lüthi vergleicht sie mit der Kleistschen Marionette: sie seien „von einem Schwerpunkt aus bewegt,<br />

der selber gehalten wird von den wesentlichen Mächten der Welt.“ 92 Auch die „diesseitigen Figuren<br />

des Märchens sind schwerelos“ 93 , schreibt er an anderer Stelle und gibt dafür einen anderen Grund<br />

an: die Verwandlung von allem Gegenständlichen, Wesenhaften in die Form einer rein visuellen<br />

Erscheinung. „Weder das Numinose, Magische, Mythische noch das Erotische, Lebendige,<br />

Wirkliche erscheint im Märchen in seiner eigentlichen Gestalt. Alles sublimiert sich zu schwerelosen<br />

Bildern.“ 94<br />

Das Menschenbild des Märchens, das Max Lüthi anhand dieser Befunde und in Anspielung an<br />

Gehlens Anthropologie konstruiert, ist das des prototypischen „Mängelwesens“: Der Märchenheld<br />

ist isoliert von seiner sozialen Umgebung. Er ist schwach und erlösungsbedürftig, oft in besonderer<br />

Weise gehandicapt, als jüngster, ärmster, behinderter, als Stiefkind gekennzeichnet, gebannt,<br />

verzaubert oder verwunschen, in Tiergestalt, in Stein oder hölzernen Kleidern gefangen, in sozialer<br />

Extremposition, oder ganz einfach als „Dummling“ stigmatisiert. Doch gerade die Naivität erweist<br />

sich als seine Stärke. Auch seine häufige Kennzeichnung als Prinz oder Prinzessin, König oder<br />

Königin, verweist wie ihr Gegenteil (die Kennzeichnung als Schweinehirt oder Gänsemagd) nur auf<br />

seine isolierte Stellung, auf einen Mangel an spezifischen Fähigkeiten und zugleich auf eine<br />

unbegrenzte Potentialität und Souveränität der Entscheidungen.<br />

Zugleich ist er ein Wanderer, ein Umwegwesen, sich lösend von F<strong>am</strong>ilie und sozialer Herkunft,<br />

dessen Welt aus Aufgaben besteht, die er nur durch ihm zuteil werdende Gnade zu lösen imstande<br />

ist, aus Tests, die nicht seiner Intelligenz oder seinen spezifischen Fähigkeiten gelten, sondern seiner<br />

Begabung, sich zu öffnen und sich fallen zu lassen, sich zu verbinden und zu lösen. Seine Naivität<br />

macht ihn d<strong>am</strong>it zum Begabten schlechthin, fähig, sich helfen zu lassen, Gaben anzunehmen,<br />

Beziehungen einzugehen, macht ihn zu einem potentiell allverbundenen Wesen und seine Existenz zur<br />

Realisierung eines kosmischen Pansymbolismus.<br />

90<br />

Lüthi, „Märchen und Sage“, S. 41.<br />

91<br />

Ebd.<br />

92<br />

Ebd.<br />

93<br />

Lüthi, Das Volksmärchen als Dichtung, S. 16.<br />

94<br />

Lüthi, Das Volksmärchen als Dichtung, S. 16.<br />

247

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