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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Diesseits- und Jenseitswesen als Gleiche miteinander zu kommunizieren vermögen. Auch das<br />

Verhältnis aller Größendimensionen und räumlichen Distanzen ist auf diese Weise verwandelt. Ein<br />

ungarischer Märchenanfang, den Gyula Ortutay zitiert lautet entsprechend: „Es war einmal irgendwo,<br />

siebenmal sieben Länder weit und noch weiter, jenseits des großen Meeres, hinter einem alten Herd,<br />

in der Mauerspalte, in der Muhme Rockes siebenundsiebzigster Falte - ein weißer Floh und in<br />

dessen Mitte eine prächtige Königsstadt.“ 81 Diese Auflösung jeder möglichen psychischen und<br />

räumlichen Tiefe in Fläche, aller inneren Widersprüche in Handlung zwischen verschiedenen Figuren,<br />

aller Eigenschaften und Kräfte in symbolische Gegenstände und den Helden verliehene Zaubergaben<br />

erfordert luzide Regeln, nach denen das Märchen stilisiert ist, Formelhaftigkeit, die es erlaubt die<br />

Märchenhandlung jederzeit weiterzustricken und eine potentiell unendliche Zahl von Möglichkeiten zu<br />

integrieren und für die Interaktion mit den Zuhörern offen zu halten. Wie in keiner anderen Gattung<br />

gehen Produktions- und Rezeptionsästhetik im Märchen ineinander über. Jeder Hörer ist immer auch<br />

ein potentieller Erzähler. 82<br />

So kennt das Märchen auch keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es ist reine Jetztzeit. „Die<br />

Menschen des Märchens machen [...] keine Erfahrungen.“ 83 Sie lernen nicht wirklich dazu, können<br />

den selben Fehler immer wieder machen, handeln so, als ob zwischen den verschiedenen Episoden<br />

kein Zus<strong>am</strong>menhang bestünde. Sie sind Wanderer, aufgebrochen zu einem oftmals noch unklaren<br />

Ziel, unterwegs durch eine Welt der Begegnungen und leichten Abschiede. Beginn und Ende des<br />

Märchens, Aufbruch und Heimkehr, Trennung und Hochzeit bilden den Rahmen von Wunsch und<br />

Erfüllung, ein Rahmen der seinerseits ausgefüllt wird von vielen großen und kleinen Wünschen und<br />

ihrer zauberischen Wirkung.<br />

Die Wünsche richten sich auf Wesen und Dinge gleichermaßen, und sie bedienen sich zu ihrer<br />

Erfüllung Helfern und Gaben, die dem Helden wie selbstverständlich zufallen. „Das Volksmärchen ist<br />

voll von solchen Dingen. In Kleidern und Gärten, aber auch in Brillanten und Di<strong>am</strong>anten verbindet<br />

sich die Natur mit Künstlichem, und das Märchen, selber ein künstliches Gebilde, strebt nach<br />

künstlichem. Nicht die wuchernde, unübersichtliche, werdende und vergehende Natur ist ihm schön,<br />

81<br />

Ortutay, Ungarische Volksmärchen, S. 73. Anstatt „es war einmal“ heißt es in den ungarischen Märchen oft:<br />

„Wo war’s, wo war’s nicht“.<br />

82<br />

Balázs sieht darin eine Parallele zwischen Märchen und Wissenschaft: „etwas Objektives, das übernommen,<br />

fortgesetzt werden kann und das nicht mit dem ‘Autor’ anfängt und endet. Am Märchen können mehrere arbeiten,<br />

wie in einem Laboratorium.“ (Balázs, Napló 1914-1922, S. 111. Eintrag vom 28.12.1915)<br />

83<br />

Lüthi, „Märchen und Sage“, S. 37.<br />

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