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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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und eine numinose Sphäre auf.“ 73 Und die Konfrontation mit den Wesen des Jenseits, einer Welt, die<br />

nicht die unsere ist, erregt, verursacht Angst, mündet in „Grausen, Erschütterung, Andacht,<br />

zwingende Neugier“ 74 , wirkt als schicksalhafte Macht, der sich die Helden der Sage nicht entziehen<br />

können. Schärfer noch hatte schon Ernst Bloch Märchen und Sage, als Poetik der Revolte und als<br />

Poetik der Macht, gegeneinander gestellt. 75 Während Lüthi, ähnlich wie Lévi-Strauss, Märchen und<br />

Sage als notwendig komplementär erachtet und bezweifelt, dass das Märchen vom Mythos<br />

abst<strong>am</strong>mt, ist er doch entschieden der Auffassung, dass „die Sage [ohne Zweifel] das ursprünglichere<br />

Gebilde als das Märchen“ 76 sei, die einfachere, weniger stilisierte, der Wirklichkeit nähere Form.<br />

Propp hingegen hatte Epos und Sage, im Gegensatz zum Mythos, als jüngere Form, als Derivat des<br />

Märchens bezeichnet. 77<br />

Im Märchen herrschen weder Macht noch Schicksal, ist alles möglich und d<strong>am</strong>it begegnen sich<br />

Menschen und Wesen der Phantasie nicht als Fremde, treten Diesseits und Jenseitswelt auf eine<br />

Ebene. „Geistig kennt das Märchen nur eine Dimension.“ 78 Es entsteht eine im Ganzen magische<br />

Welt, die die Bedrohung, den Schauder des Magischen nicht mehr kennt. „Die vielen ursprünglich<br />

magischen Elemente im Märchen sind entmachtet, ihre magische Seele ist verflüchtigt. [...] Aller<br />

Zauber verwirklicht sich im Märchen spielend leicht.“ 79 Für den Stil der Märchenerzählung hat dies<br />

weitreichende Konsequenzen. Denn möglich ist solche selbstverständliche Begegnung zwischen<br />

Realität und Phantasie, von Wunsch und Erfüllung in einer Dimension nur in einer Sphäre der<br />

Künstlichkeit, der Abstraktion: „Nebeneinander und Nacheinander, [...] Flächenhaftigkeit,<br />

Eindimensionalität, Isolationstendenz, Metallisierungen, Mineralisierungen, Sublimierung, abstrakter<br />

Stil“ 80 , sind für Lüthi die allgemeinen Kennzeichen einer Poetik, in der Menschen und Dinge,<br />

73<br />

Max Lüthi, „Märchen und Sage“ [1951], in: ders., Volksmärchen und Volkssage, S. 28.<br />

74<br />

Ebd., S. 27.<br />

75<br />

1938 notiert sich Balázs in seine Kladde, zwischen Zitaten aus Karl Marx’ Deutsche Ideologie und Notizen über<br />

faschistische Ästhetik und Ideologie, auch Passagen aus Bloch gerade erschienener Erbschaft dieser Zeit:<br />

„Märchen und Sage sind so dicht und schlicht nebeneinander, als zeigten sie nicht ganz verschiedene Zeit, als<br />

bezeichneten sie nicht ganz verschiedene Welt: Das Märchen, hineinleuchtend in Kolportage, bezeichnet Revolte,<br />

die Sage abst<strong>am</strong>mend vom Mythos, erduldetes Geschick.“ (Béla Balázs, „Naplói. Isztra-Moskva [Tagebücher<br />

Isztra-Moskau]“, in: Balázs -Nachlass, MTA, Ms 5024/2)<br />

76<br />

Max Lüthi, „Gattungsstile“ [1953/54], in: ders., Volksmärchen und Volkssage, S. 52.<br />

77<br />

Siehe Propp, Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, S. 35; 55.<br />

78<br />

Lüthi, „Märchen und Sage“, S. 28.<br />

79<br />

Lüthi, „Märchen und Sage“, S. 44.<br />

80<br />

Lüthi, Das Volksmärchen als Dichtung, S. 53. Auch die im Märchen so häufig vorkommenden Materialien Glas,<br />

Kristall und Edelmetall seien von daher nicht so sehr Ausdruck eines erträumten Reichtums, als die adäquate<br />

Umsetzung eines flächigen, alle Wesen und Dinge auf einer Ebene isolierenden Stils der Transparenz, des Glanzes<br />

und der Leichtigkeit. Alles ist Oberfläche und alle Oberfläche verweist aufeinander. So sind Wesen und Dinge<br />

zugleich isoliert und alle miteinander verbunden.<br />

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