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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Märchen.“ 48 Vordergründig scheint es, als müsse man Propp vorbehaltlos recht geben. Die<br />

Märchenforschung hat in vielen Fällen nachweisen können, dass sich Märchen aus mythischen Sujets<br />

und Motiven entwickelt haben, nachdem deren sakrale Bedeutung, als Bestandteil ritueller Praxis und<br />

als Offenbarung geheimen Wissens, sich erschöpft hatten. Mircea Eliade sprach in diesem<br />

Zus<strong>am</strong>menhang vom „Verfall des Sakralen“. 49 Eliade verknüpft folgerichtig Sagen und Mythen und<br />

kennzeichnet deutlich die Differenz beider zum Märchen. „Der Sagenheld bewegt sich in einer von<br />

den Göttern und vom Schicksal regierten Welt. Die Märchenfiguren hingegen brauchen keinen Gott.<br />

[...] Dieses beinahe ironische Losgelöstsein vom Göttlichen geht Hand in Hand mit einer totalen<br />

Problemlosigkeit. Im Märchen ist die Welt einfach und durchscheinend.“ 50<br />

Näher betrachtet, scheint die Kontroverse zwischen Lévi-Strauss und Propp jedoch auf einer<br />

anderen Ebene zu liegen. So steht Propps These vom historischen Aufeinanderfolgen von Mythos<br />

und Märchen (selbst da, wo sie, wie er konzidiert, als Form eine zeitlang nebeneinander zu existieren<br />

vemögen) in Zus<strong>am</strong>menhang mit der evolutionistischen Vorstellung, die unterschiedlichen<br />

Erzähltraditionen würden einander ablösen und die Mythen würden schließlich in der sozialistischen<br />

Gesellschaft ganz überwunden werden. Lévi-Strauss hingegen betonte immer wieder, dass die<br />

komplementären Erzählstrukturen auch komplementären Denkstrukturen angehören, die durch die<br />

Moderne und den Triumph wissenschaftlichen Denkens keineswegs entbehrlich geworden seien.<br />

„Selbst in unseren zeitgenössischen Gesellschaften ist das Märchen kein Rest-Mythos, aber es<br />

krankt daran, daß es allein überlebt. Das Verschwinden des Mythen hat das Gleichgewicht<br />

zerstört.“ 51<br />

Propps Argument, eine Erzählung könne in der selben Kultur nicht gleichzeitig als Mythos und als<br />

Märchen, als verbindlicher, das Ritual begleitender Text 52 , und als „Lügengeschichte“ 53 präsent sein,<br />

48<br />

Vladimir Propp, „Die Bedeutung von Struktur und Geschichte bei der Untersuchung des Märchens“, in: ders.,<br />

Morphologie des Märchens, S. 236.<br />

49<br />

Mircea Eliade, „Wissenschaft und Märchen“, in: Felix Karlinger (Hg.), Wege der Märchenforschung. Darmstadt:<br />

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S. 317 [zuerst erschienen in französischer Sprache: „Les savants et les<br />

contes de fées“, 1956].<br />

50<br />

Eliade, „Wissenschaft und Märchen“, S. 315.<br />

51<br />

Lévi-Strauss, „Die Struktur und die Form“, S. 198. In einem Aufsatz von 1955 hatte Lévi-Strauss freilich den<br />

Mythos auch in der Gegenwart überleben sehen: „Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische<br />

Ideologie. In unseren heutigen Gesellschaften hat diese möglicherweise jene nur ersetzt.“ (Claude Lévi-Strauss,<br />

„Die Struktur der Mythen“, in: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln:<br />

Kiepenheuer & Witsch, 1972, S. 27.<br />

52<br />

Vgl. Eliade, „Wissenschaft und Märchen“, S. 312.<br />

53<br />

„In den meisten Sprachen ist ‘Märchen’ ein Synonym für ‘Lüge’.“ (Propp, „Die Bedeutung von Struktur und<br />

Geschichte bei der Untersuchung des Märchens“, S. 236)<br />

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