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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Die Frage hingegen, inwieweit Märchen tatsächlich historisch auf Initiationsriten, Sch<strong>am</strong>anenlieder<br />

und ekstatische Erlebnisse zurückgehen, inwieweit in ihnen Verarbeitungsmodi menschlicher sexueller<br />

Konflikte und Reifungsprozesse in überhistorischer Form 43 , oder gar, wie es die Jung’sche<br />

Psychologie behauptet, symbolische Ausdrucksformen eines überhistorischen kollektiven<br />

Unbewussten zu sehen sind 44 , beschäftigt die Märchenforschung bis heute.<br />

Insbesondere das Verhältnis von Märchen, Mythos und Sage gab wiederholt Anlass zu<br />

grundsätzlichen Kontroversen, so z.B. 1960 zwischen Vladimir Propp und Claude Lévi-Strauss<br />

anlässlich des Erscheinens der französischen Ausgabe von Propps grundlegender Morphologie des<br />

Märchens 45 aus dem Jahre 1928. Lévi-Strauss hatte Propps Morphologie in einer für die<br />

französische Ausgabe bestimmten Reflexion als epochalen Schritt einer strukturalen Linguistik und<br />

Ethnologie vereinnahmt und war zugleich recht souverän, um nicht zu sagen herablassend mit einigen<br />

von ihm als solchen empfundenen Defiziten des Buches umgegangen.<br />

Er warf ihm vor, Märchen und Mythen nicht im Zus<strong>am</strong>menhang zu untersuchen, als Verarbeitung<br />

einer „gemeins<strong>am</strong>e[n] Substanz [...]“. 46 Propp habe einen Irrtum begangen, wenn er das Märchen als<br />

eine jüngere Erzähltradition als den Mythos begreifen würde. „Ihre Beziehung ist keine von vorher zu<br />

nachher, von ursprünglich zu abgeleitet. Es ist vielmehr eine Beziehung der Komplementarität.“ 47<br />

Vladimir Propp reagierte, womit Lévi-Strauss vermutlich nicht gerechnet hatte, und verwahrte sich<br />

gegen diese Charakterisierung. Er stellte klar, dass es ihm nicht um eine exemplarische Begründung<br />

strukturaler Ethnologie gegangen war, sondern in aller Bescheidenheit um eine Untersuchung der<br />

Zaubermärchen, in denen er mittels seiner Analyse eine grundlegende, aber zahllose Variationen<br />

zulassende narrative Struktur ermitteln konnte. Und er insistierte, dass der Mythos als Erzählung<br />

sakralen Charakters dem Märchen, als nicht geglaubter Erzählung, voranginge: „Dort, wo Märchen<br />

und Mythos auf einem identischen System [Sujet] beruhen, ist der Mythos stets älter als das<br />

43 Vgl. neben Riklin, „Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen“, auch Karl Abrah<strong>am</strong>, „Traum und Mythus.<br />

Eine Studie zur Völkerpsychologie“, in: ders., Psychoanalytische Studien. Bd. 1. Hg. von Johannes Cremerius.<br />

<strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: S. Fischer, 1971, S. 261-323.<br />

44 Vgl. Hedwig von Beit, Das Märchen - Sein Ort in der geistigen Entwicklung. Bern: Francke, 1965, sowie:<br />

Hedwig von Beit, Symbolik des Märchens. Bern: Francke, 1952.<br />

45 Vladimir Propp, Morphologie des Märchens. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: Suhrk<strong>am</strong>p, 1975 [Originalausgabe:<br />

Morphologija skazki, 1928].<br />

46 Claude Lévi-Strauss, „Die Struktur und die Form. Reflexionen über ein Werk von Vladimir Propp“, in: Propp,<br />

Morphologie des Märchens, S. 198.<br />

47 Ebd.<br />

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