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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Béla (896). Er warnt davor, es könnte „die hochedle ungarische Nation die Anfänge ihrer Entstehung<br />

und ihrer einzelnen Heldentaten aus den unwahren Märchen der Bauern oder den geschwätzigen<br />

Gesängen der Spielleute gleichs<strong>am</strong> träumend [quasi sompniando]“ 38 hören. Gyula Ortutay nimmt<br />

eben dies zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung des Volksmärchens: „Lohnend wäre es indessen,<br />

bei dem auf die traumhafte, in Traum wiegende Atmosphäre des Märchenhörens und<br />

Märchenerzählens hindeutenden Ausdruck ‘quasi sompniando’ zu verweilen.“ 39<br />

Ortutay betont auch, dass sich in den ungarischen Märchen Elemente und Motive sch<strong>am</strong>anistischer<br />

Rituale und d<strong>am</strong>it verbundener Vorstellungsbilder erhalten haben, ist freilich aber vorsichtiger mit<br />

dem Schluss, dass dies ein für die osteuropäische und russische Märchenüberlieferung spezifisches<br />

Kennzeichen sei. 40 In der Tat sind die in diesem Zus<strong>am</strong>menhang genannten Motive, wie die<br />

schwebende, sich drehende Burg, oder auch der den Blick in die Ferne erlaubende Zauberspiegel<br />

auch in der westlichen, z.B. aus der keltischen Überlieferung st<strong>am</strong>menden Märchentradition bekannt.<br />

Ortutay hält zugleich daran fest, dass „solange die Riten Anspruch auf Authentizität hatten und für die<br />

Gesellschaft als verpflichtend galten, [...] die mit ihnen verknüpften Geschichten nicht in die<br />

Märchenerzählung [gelangten]. Als aber ihre rituale Gültigkeit und ihre soziale Glaubwürdigkeit in<br />

Verfall gerieten und schließlich nicht mehr bestanden, gingen ihre Elemente, ihre Motive nach und<br />

nach in die nur der Unterhaltung halber erzählten Märchengeschichten über.“ 41<br />

Die Frage nach der Herkunft der Märchen und Märchenstoffe ist bis heute umstritten. Dabei spielen<br />

allerdings Versuche, die Herkunft der Märchen geographisch oder ethnisch einzugrenzen, keine<br />

besondere Rolle mehr. Die lange Zeit aufrechterhaltene These der Gebrüder Grimm über die<br />

indogermanische Herkunft der Märchen war schon zu Beginn des Jahrhunderts widerlegt. Auch die<br />

zwischenzeitig verbreitete These vom historischen Zus<strong>am</strong>menhang der Märchentradition mit den<br />

sogenannten Megalith-Kulturen der Jungsteinzeit 42 hatte keinen dauerhaften Bestand. Vorstellungen<br />

wie die Anna Lesznais, die Märchen st<strong>am</strong>mten aus einer paradiesischen Vorzeit und stellten „reale“<br />

Erinnerungen an ein goldenes Zeitalter dar, standen begreiflicherweise außerhalb der Diskussion.<br />

38<br />

Zitiert nach Ortutay, „Das ungarische Volksmärchen, S. 8.<br />

39<br />

Ebd.<br />

40<br />

„Sándor Solmossy (1864-1945) machte darauf aufmerks<strong>am</strong>, daß von den sch<strong>am</strong>anistisch religiösen<br />

Vorstellungen des Ungartums vor der Landnahme einige unter die Motive unserer Volksmärchen Eingang<br />

gefunden hätten und daß sich im Märchengut des Westens keine entsprechenden verwandten Motive fänden,<br />

daß wir also die sogenannte ‘östliche’ sch<strong>am</strong>anistische Schicht als den ältesten Teil unserer Volksmärchen zu<br />

betrachten hätten.“ Ebd., S. 9.<br />

41<br />

Ebd., S. 10.<br />

42<br />

Vgl. Otto Huth, „Märchen und Megalithreligion“, in: Paideuma, Bd. V., H. 1-2 (1950), S. 12-22.<br />

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