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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Rhytmus der Arbeit ergriffen hat, da lauscht er den Geschichten auf solche Weise, daß ihm die Gabe,<br />

sie zu erzählen, von selber zufällt.“ 32<br />

Gyula Ortutay 33 hat in den dreißiger und vierziger Jahren nicht nur ungarische Märchen ges<strong>am</strong>melt,<br />

sondern auch das Verhältnis von Erzählern und ihren Zuhörern untersucht. „Wir wollten beobachten,<br />

inwieweit der Wieder-Erzähler und die Zuhörer die Überlieferung (die geschichtliche, zeitliche<br />

Verwirklichung der Gemeinschaft) beeinflussen.“ 34 Denn „dieses Verhältnis bestimmt die Existenz<br />

des Märchens, die Art und Weise, wie es überliefert wird, die künstlerisch-darstellerischen Vorgänge<br />

des Wiedererzählens, Wiederschaffens.“ 35 Ortutay betont die aktive Rolle, die der<br />

Erzählgemeinschaft bei der Fortentwicklung des Märchenbestandes zukommt: „[D]ie Zuhörerschaft<br />

nimmt an der Schöpfung von Varianten teil. Zugleich kontrollieren die Zuhörer den Erzähler durch<br />

ihre kritischen Bemerkungen oder dadurch, daß sie die alte, überlieferte Form fordern.“ 36 Zwei<br />

Kräfte treten hier fruchtbar in Widerstreit, die Lust an der Wiederholung, die Unterwerfung unter<br />

Gesetzmäßigkeit der Erzähltradition, die endlose Variation eines Kanons von Motiven, Figuren und<br />

symbolischen Objekten. Und zugleich die sich in dieser Variation auslebende Lust an fortwährender<br />

Neuschöpfung, an neuen Elementen bildhafter Visionen. Ortutay zitiert Ferenc Czapár, einen Fischer:<br />

„Das Märchen geht so weiter, wie wir wollen, bloß Grund und Boden muß es haben, da kann man<br />

alles zus<strong>am</strong>mentragen.“ 37<br />

Schon im Mittelalter wurde die schriftliche Überlieferung, die zuverlässige scriptura, dem<br />

„lügnerischen“ Märchenerzählen gegenübergestellt. So auch in Ungarn durch den anonymen Autor<br />

der Gesta Hungarorum (1196-1203), der Chronik der magyarischen Landnahme durch König<br />

32<br />

Walter Benj<strong>am</strong>in, „Der Erzähler“ [1936], in: ders., Ges<strong>am</strong>melte Schriften. II.2 [werkausgabe Band 5]. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong><br />

<strong>Main</strong>: Suhrk<strong>am</strong>p, 1980, S. 446f.<br />

33<br />

Gyula Ortutay (1910-1978), Ethnograf und Politiker, war nach 1945 als den Kommunisten nahestehender<br />

Vertreter der Bauernpartei eine der zentralen Figuren der ungarischen Politik und der Etablierung der<br />

kommunistischen Herrschaft. 1945-1947 Direktor des Budapester Rundfunks, danach bis 1950 als Minister für<br />

Religion und Unterricht verantwortlich für die Verstaatlichung des Schulwesens und die Kontrolle über große<br />

Teile des kulturellen Lebens. Später war Ortutay als Leiter der ungarischen Museen, als Rektor der Budapester<br />

<strong>Universität</strong> und auch als Generalsekretär der Nationalen Front tätig. Béla Balázs hat 1947 bis 1949 einige Male mit<br />

ihm korrespondiert.<br />

34<br />

Ortutay, „Das ungarische Volksmärchen“, S. 44. Ortutays Bemerkungen über den Zus<strong>am</strong>menhang von<br />

schöpferischer Eigenleistung der Erzähler und der unmittelbaren Rezeption durch die Zuhörer und deren<br />

Reaktionen gehen auch auf Arbeiten seiner Schülerin Linda Dégh zurück, deren Dissertation 1956 in Budapest<br />

und 1962 in deutscher Übersetzung publiziert wurde: Linda Dégh, Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft.<br />

dargestellt an der ungarischen Volksüberlieferung. Berlin: Akademie-Verlag, 1962.<br />

35<br />

Ortutay, „Das ungarische Volksmärchen“, S. 50.<br />

36 Ebd., S. 51.<br />

37 Ebd., S. 63.<br />

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