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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Denn sie stehen nicht bewusst für etwas; sie sind tatsächlich Mythen, denn sie sind wortwörtlich zu<br />

nehmen, sind wortwörtlich geglaubte Dinge.“ 5<br />

Magda Nagy hat Balázs’ Beschäftigung mit dem Märchen als Versuch interpretiert, eine symbolische<br />

Sprache zu entwickeln, auf den „Spuren der Phantasie seines Volkes“ 6 , chinesischer und indischer<br />

Volksweisheiten und Denkschulen, die er für seine Märchendichtungen durchgearbeitet habe, um die<br />

verschiedenen Zeichensysteme kennenzulernen, „die auf den Beziehungen zwischen Menschen und<br />

Dingen beruhen“ 7 würden. Doch was Balázs immer wieder, in unterschiedlichen Formulierungen,<br />

mehr oder weniger unbeholfen aber nachdrücklich, zum Ausdruck bringen will ist etwas anderes:<br />

dass nämlich die Natur der menschlichen Seele nicht als ein Repertoire von ihr unterscheidbarer<br />

Zeichen gegenübertritt, sondern als etwas Verwandtes mit ihr szenisch korrespondiert. Mit<br />

semiotischen Kategorien ist dieser Vorstellung von pansymbolischer Verschmelzung nicht<br />

näherzukommen. Auch in seinem 1917 vor der „Freien Schule der Geisteswissenschaften“ des<br />

Budapester Sonntagskreises gehaltenen Vortrag „Über lyrische Sensibilität“ heißt es<br />

dementsprechend wolkig: „Jener Abgrund der Dualität, der Subjekt und Objekt, Seele und Natur<br />

voneinander trennt, war in der antiken Hindu-Kultur noch nicht vorhanden. [...] Die Seele steht nicht<br />

der Natur gegenüber, denn alle Dinge sind nur Farben derselben Seele. Deshalb kann die Natur auch<br />

die Seele nicht symbolisieren, nicht bedeuten.“ 8<br />

Indem im Volksmärchen Dinge und Landschaften als „souverän lebendige Wesen eigenartigen<br />

Gesichts und individueller Seele“ 9 mit den Helden korrespondieren, berichten die Märchen von<br />

Szenen menschlicher Entwicklung, symbolisieren sie in szenischen Akten lebensgeschichtliche<br />

Übergangs- und Initiationsfiguren. Und sie tun dies in einer jeweils nur schwer auflösbaren<br />

Durchdringung von überkommenem rituellen Material und verarbeiteten, oft kindlichen Phantasien.<br />

Das Märchen bezieht sich dabei augenscheinlich sowohl ontogenetisch, wie phylogenetisch auf<br />

primäre Symbolbildungen, wie sie im Rahmen formeller Übergangsrituale und in der Traumarbeit<br />

generiert werden. „Es ist“, so Bruno Bettelheim, “charakteristisch für das Märchen, daß es ein<br />

existentielles Dilemma kurz und pointiert feststellt.“ 10 Märchen dienten dazu, ihren Zuhörern die<br />

5<br />

Balázs, Napló 1914-1922, S. 308. Eintrag vom 9.4.1918)<br />

6<br />

Magda Nagy, „Béla Balázs’ Tätigkeit für den Film, das Theater und die Arbeiterkultur <strong>am</strong> Ende der zwanziger und<br />

Anfang der dreißiger Jahre“, in: Béla Balázs, Essay, Kritik 1922-1932. Berlin: Staatliches Filmarchiv der DDR,<br />

1973, S. 15.<br />

7<br />

Ebd.<br />

8<br />

Béla Balázs, Über lyrische Sensibilität“, in: Karádi, Vezér (Hg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der<br />

Sonntagskreis, S. 232.<br />

9<br />

Nagy, „Béla Balázs’ Tätigkeit...“, S. 15.<br />

10<br />

Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Märchen. München: dtv, 1980, S. 15.<br />

232

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