Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

kops.ub.uni.konstanz.de
von kops.ub.uni.konstanz.de Mehr von diesem Publisher
12.12.2012 Aufrufe

Sich treiben zu lassen, sich in Situationen zu verlieren, in denen Identität gewonnen werden soll, jene Reise durch ein Zwischenreich der Ambivalenz und Nacktheit, der kontrollierten Konfrontation mit dem Tod bildet auch den roten Faden, der sich durch Balázs’ ersten Roman zieht: Unmögliche Menschen, oder, wie der Roman zunächst heißen sollte: In Gottes Hand. 6.6 Szenen einer Verschmelzung Seit 1914 erwähnt Balázs immer wieder im Tagebuch das Projekt eines Romans. Dessen Held, so notiert er am 5. September 1914, sei kein „Charakter, „sondern er kämpft um einen Charakter. [...] Er sieht, durch seine Sehnsucht getrieben, die anderen Figuren um sich als umso festere Charaktere, an denen er den eigenen Charakter schärft. Nun, dass dieser Roman offenbar so weit gereift ist, dass ein Weltkrieg kommen musste, damit er in mir ein wenig noch unterdrückt werde, nun das bedeutet wohl, dass ich selbst mit dieser Prozedur fertig bin, und dass ich nach vielen Abenteuern und langem Suchen meinen eigenen Charakter gefunden habe. Er musste rasch fertig werden für Anna. Ich hatte ihn nötig wie ein neues Gewand, ohne das ich nicht zu Besuch gehen kann. Denn ich fühle, dass der Charakter der Seele Gewand und nicht ihr Fleisch ist.“ 271 Am 31. März 1915, Balázs ist zum Hilfsdienst im Büro nach Szabadka 272 abkommandiert worden, ist wieder vom Roman die Rede, und wieder erfährt man nicht viel über ihn, außer dass Balázs ihn offenbar vor sich herschiebt, wie eine Aufgabe, auf die er sich ungenügend vorbereitet fühlt. „Alles in allem: erneut Umschau halten in mir selbst, still sich allein entkleiden, im Alleinsein ein Bad nehmen, still sein. Nach Krieg und Ehe.“ 273 Doch Balázs tut das Gegenteil, er stürzt sich in das Leben der „Bohéme von Szabadka [...]. Hier ist das Milieu verkommener, wilder, gedrückter. Dass sich das als Blitz entlädt, ist eher vorzustellen.“ 274 Die Menschen, die er hier kennenlernt, junge Künstler, Journalisten und Musiker, und ein Mädchen, das ihn nicht nur wegen ihres Namens, Eszter, an seine erste Liebe in Szeged erinnert, sie alle werden für Balázs zu einer experimentellen Abenteuerwelt und, so glaubt er zeitweise, zu einem Publikum, einem möglichen Adressaten seiner Poetik. 270 Ebd., S. 151. 271 Balázs, Napló 1914-1922, S. 24. 272 Heute: Subotica in Jugoslawien. 273 Balázs, Napló 1914-1922, S. 37. Und Balázs nimmt sich vor, zu arbeiten und auf Frauen zu verzichten, „unbarmherzig“ (ebd. S. 36). 274 Ebd., S. 47. Eintrag vom 9.4.1915. 219

Balázs lässt sich drei Frühlingsmonate lang in dieses Milieu fallen, dessen „Melancholie des skeptischen Kritizismus [...] der individualistischen Anarchie“ ihm ein „gespenstisch einheitliches, klares Generationsbild“ vermittelt: Menschen, „die durch die Lebensweise des ’Sowieso-egal’ verlottern, sich dem Suff hingeben“ 275 , eine Generation des Krieges. Und es ist dieses Milieu, bis hin zu konkreten Personen und Situationen, mit dem er schließlich in seinem Roman dessen Helden auf der Suche nach ihrem Selbst konfrontieren wird. Balázs’ erotisches Abenteuer mit der „Eszti von Szabadka“ 276 endet in einer Katastrophe. Ahnungen hat Balázs schon im Mai: „In Pest habe ich E[dith] und A[nna] meine Eszti-Historie erzählt. Auch, dass Eszti, die ich als ‘leichte’ Frau mitnahm, anfängt, ernster zu werden, wie alle Frauen neben mir, auch die letzte Nutte. Ich bin der ‘Liebhaber des Todes’. Anna war davon entsetzt.“ 277 Während Edith Hajós sich darauf vorbereitet, ihr Medizinstudium in Bern abzuschließen, fürchtet Balázs um Anna, die einen Nervenzusammenbruch erleidet, von Irma phantasiert, die niemand aus dem Wasser gezogen hat, und von ihrem Mann Jenö, der mit Selbstmord droht. Balázs beendet sein Abenteuer in Szabadka und versichert Anna seine Liebe. Am 11. Juni ist es Eszter Grád, die „Eszti von Szabadka“, die ihrem Leben ein Ende macht, mit einer Kugel in den Kopf. 278 Das National Theater hatte es mittlerweile abgelehnt, sein Drama Tödliche Jugend zu spielen. Balázs hatte darauf mit Sarkasmus reagiert. 279 Und seine Lebenssituation nimmt eine neue Wendung, als Edith zunächst nach Heidelberg und dann nach Ungarn zurückkehrt, entschlossen, bei Balázs zu bleiben. Zusammen mit Anna kommt sie zwei Wochen lang nach Szabadka. Im Oktober gelingt es Balázs, vom weiteren militärischen Hilfsdienst freigestellt zu werden und wieder nach Budapest zurückkehren zu dürfen, wo er und Edith nun in einem Haus auf dem Naphegy, dem „Sonnenhügel“ in Buda, aber in getrennten Wohnungen leben und einen Teil ihres Alltags gemeinsam verbringen werden. Das Haus gehört Ediths Vater, und hier wohnt mittlerweile auch René Spitz, ein 275 Ebd., S. 51. Eintrag vom 5.5.1915. 276 Ebd., S. 55. 277 Ebd., S. 63. Eintrag vom 29.5.1915. 278 An Lukács schreibt Balázs wenige Tage später: „Hier starb ein Mädchen. Dieses mal bin ich sicher, nicht der Grund zu sein, aber wahrscheinlich die Gelegenheit. Was ist wohl unangenehmer: zu glauben, dass ich schuldig bin, wenn ich dies oder jenes nicht tue und dann auch nichts schlimmes geschieht? Oder aber zu wissen, dass ich nichts getan habe und es aber auch nicht darauf ankommt, der Tod ist einfach mit mir. Ich bin gemeingefährlich.“ (Balázs an Georg Lukács, 21.6.1915, in: Balázs Béla levelei Lukács Györgyhoz, S. 139) 279 „Ich war auch im Nationaltheater. Ich bekam die Tödliche Jugend zurück. ‘Der Herr Direktor läßt ausrichten, dass ich auch noch bessere Stücke schreiben werde.’“ (Balázs, Napló 1914-1922, S. 69. Eintrag vom 29.5.1915) 220

Sich treiben zu lassen, sich in Situationen zu verlieren, in denen Identität gewonnen werden soll, jene<br />

Reise durch ein Zwischenreich der Ambivalenz und Nacktheit, der kontrollierten Konfrontation mit<br />

dem Tod bildet auch den roten Faden, der sich durch Balázs’ ersten Roman zieht: Unmögliche<br />

Menschen, oder, wie der Roman zunächst heißen sollte: In Gottes Hand.<br />

6.6 Szenen einer Verschmelzung<br />

Seit 1914 erwähnt Balázs immer wieder im Tagebuch das Projekt eines Romans. Dessen Held, so<br />

notiert er <strong>am</strong> 5. September 1914, sei kein „Charakter, „sondern er kämpft um einen Charakter. [...]<br />

Er sieht, durch seine Sehnsucht getrieben, die anderen Figuren um sich als umso festere Charaktere,<br />

an denen er den eigenen Charakter schärft. Nun, dass dieser Roman offenbar so weit gereift ist, dass<br />

ein Weltkrieg kommen musste, d<strong>am</strong>it er in mir ein wenig noch unterdrückt werde, nun das bedeutet<br />

wohl, dass ich selbst mit dieser Prozedur fertig bin, und dass ich nach vielen Abenteuern und langem<br />

Suchen meinen eigenen Charakter gefunden habe. Er musste rasch fertig werden für Anna. Ich hatte<br />

ihn nötig wie ein neues Gewand, ohne das ich nicht zu Besuch gehen kann. Denn ich fühle, dass der<br />

Charakter der Seele Gewand und nicht ihr Fleisch ist.“ 271 Am 31. März 1915, Balázs ist zum<br />

Hilfsdienst im Büro nach Szabadka 272 abkommandiert worden, ist wieder vom Roman die Rede, und<br />

wieder erfährt man nicht viel über ihn, außer dass Balázs ihn offenbar vor sich herschiebt, wie eine<br />

Aufgabe, auf die er sich ungenügend vorbereitet fühlt. „Alles in allem: erneut Umschau halten in mir<br />

selbst, still sich allein entkleiden, im Alleinsein ein Bad nehmen, still sein. Nach Krieg und Ehe.“ 273<br />

Doch Balázs tut das Gegenteil, er stürzt sich in das Leben der „Bohéme von Szabadka [...]. Hier ist<br />

das Milieu verkommener, wilder, gedrückter. Dass sich das als Blitz entlädt, ist eher vorzustellen.“ 274<br />

Die Menschen, die er hier kennenlernt, junge Künstler, Journalisten und Musiker, und ein Mädchen,<br />

das ihn nicht nur wegen ihres N<strong>am</strong>ens, Eszter, an seine erste Liebe in Szeged erinnert, sie alle<br />

werden für Balázs zu einer experimentellen Abenteuerwelt und, so glaubt er zeitweise, zu einem<br />

Publikum, einem möglichen Adressaten seiner Poetik.<br />

270 Ebd., S. 151.<br />

271 Balázs, Napló 1914-1922, S. 24.<br />

272 Heute: Subotica in Jugoslawien.<br />

273 Balázs, Napló 1914-1922, S. 37. Und Balázs nimmt sich vor, zu arbeiten und auf Frauen zu verzichten,<br />

„unbarmherzig“ (ebd. S. 36).<br />

274 Ebd., S. 47. Eintrag vom 9.4.1915.<br />

219

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!