Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.“ 192 Und wie in einem späten Nachklang von Kleists Utopie des Marionettentheateraufsatzes, vom Weg ins Paradies über den Umschlag der höchsten Erkenntnis in Bewusstlosigkeit, verleiht Benjamin dem Krieg noch einen Sinn: nicht als das „große Erlebnis“, sondern als Urszene des Verlustes jeder Erfahrung, als Wiedergewinnung der Unschuld. Für Balázs wurzelt der Sinn dieses Krieges außerhalb dieser Welt, öffnet die Sinnlosigkeit des Geschehens die Sinne nicht für das radikal Neue, sondern für Überzeitliches, für Beziehungen jenseits von Zeit und Raum, und damit freilich: für eine neue Poesie: „Ist das der Sinn des Todes, dass er nichts bedeutet, und das Leben, dass es nur ein Abenteuer ist, dass es nur ein Ast ist, mit Frieden, Krieg und all den Blumen, weil sein Stamm jenseits dieses Zaunes ist?“ 193 Von solchen metaphysischen Setzungen aus entwickelt Balázs eine Poetik des Krieges, die auf den Pansymbolismus einer Welt abhebt, die jenseits des empirischen Lebens ihre Totalität besitzt. Der Krieg und die mit ihm verbundene Zerstörung, das Niederreißen aller Vergleiche zwischen den realen Dingen, „weil alles niedergetrampelt und getötet worden [ist], was bis jetzt etwas bedeutet hat“ 194 , ist ihm die „brauchbarste Poesie aller Zeiten“. Denn „hier ist die Realität Poesie geworden“. 195 Der Krieg mobilisiere die erste wie die zweite Natur gleichermaßen zu einem Werk der Zerstörung. Dem Krieg gelte die Entfremdung zwischen den geistigen Objektivationen und der Natur nichts. Seiner Vernichtung seien beide ausgesetzt. 196 Balázs sieht gerade in der Radikaliät der Sinnentleerung der Dinge, wie sie der Krieg gewaltsam vornimmt, eine Chance, zu ihrer metaphysischen Totalität vorzustoßen. Der Krieg mache nicht nur die Menschen vor der Bedrohung, sondern auch die Dinge gleich, ob künstliche oder natürliche Gebilde. Und so speist der Krieg auch Balázs’ „mystische Träume von einem Zusammenfallen von Subjekt und Objekt, einer intuitiven Vereinigung von Menschen und Dingen“. 197 Balázs erlebt den Krieg als einen märchenhaften Übergangszustand, in dem die Dinge und die Menschen miteinander korrespondieren, die Welt neu zusammengesetzt wird. Balázs fühlt sich auch nach seiner Rückkehr nach Budapest, nach seinen Erfahrungen und Phantasien an der Front, nach aller kritischen Abwendung von den Kriegszielen vom „Kriegserlebnis“ 192 Ebd., S. 215. 193 Balázs, Lélek a haboruban, S. 133. 194 Ebd., S. 134. 195 Ebd. 196 Eine problematische Annahme, denn Natur „an sich“ ist nicht zerstörbar, allenfalls jene ihrer Formen, auf die menschliche Wahrnehmung und Lebensfunktionen eingerichtet, menschliches Handeln und damit „zweite Natur“ angewiesen sind. 205

angezogen. Vom Krieg selber weiß er Anna Lesznai, der „Prinzessin“, wenig zu berichten. Und doch, so gesteht er ihr, würde er wieder freiwillig an die Front gehen, wenn er nur könnte. „Ich würde keinen einzigen Grund nennen können und ich würde trotzdem gehen. Heute verstehe ich die, die sich vor dem Krieg verstecken. Ich verstehe sie besser, als mich selbst, aber ich liebe sie nicht. Weil es Wahrheiten gibt, in die wir nicht hineinpassen.“ 198 Balázs’ Kriegsphantasien kreisen um Motive, die mit der paradoxen Weihe eines sinnlosen Aktes versehen sind: Wiedergeburt, Vermählung, Heimkehr und Übergang. Balázs’ Krieg ist im Ganzen ein Ritual der Initiation. 6.5 Übergangsriten und Magie Das Realitätsprinzip und das Prinzip der Magie schließen einander nicht aus. Edgar Morin betont in seiner anthropologischen Untersuchung über das Kino, wie Magie und Naturerkenntnis auf dem Felde der Symbole komplementär aufeinander wirken. „Lévy-Bruhl hat unaufhörlich gezeigt, daß die archaischen Menschen zwar glauben, ein Hexenmeister habe einen der ihren getötet, aber deshalb doch wissen, daß er von einem Krokodil im Fluß gefressen wurde. Jedes Objekt und jedes reale Ereignis hat ein offenes Fenster zum Irrealen, das Irreale kehrt seine Front dem Realen zu.“ 199 Archaische Jäger wissen, so führt Morin aus, dass sie das Wild mit Pfeil und Lanze erlegen müssen. Doch zugleich „praktizieren sie am Bilde des Tieres den vorbereitenden Zauber, die mimischen Versöhnungsriten“. 200 Lucien Lévy-Bruhl hatte in seinen soziologischen Studien über die sogenannten „Naturvölker“ die Bedeutung der „Kollektivvorstellungen“ als Grundlage des Gesellschaftlichen betont. Das „primitive“, magische Denken schien ihm Ausdruck einer tiefverwurzelten „Abneigung gegen das verstandesmäßige Denken, [...] gegen alles, was die Logiker als diskursive Operation des Denkens bezeichnen.“ 201 Damit trat er zugleich der gängigen Anschauung entgegen, in den Formen des 197 Fehér, „Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution 1918“, S. 151. 198 Balázs, Lélek a haboruban, S. 135. 199 Morin, Der Mensch und das Kino, S. 173. Vgl. z.B. Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959, S. 344 [Originalausgabe: La mentalité primitive]. 200 Morin, Der Mensch und das Kino, S. 173. 201 Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, S. 5. 206

angezogen. Vom Krieg selber weiß er Anna Lesznai, der „Prinzessin“, wenig zu berichten. Und<br />

doch, so gesteht er ihr, würde er wieder freiwillig an die Front gehen, wenn er nur könnte. „Ich<br />

würde keinen einzigen Grund nennen können und ich würde trotzdem gehen. Heute verstehe ich die,<br />

die sich vor dem Krieg verstecken. Ich verstehe sie besser, als mich selbst, aber ich liebe sie nicht.<br />

Weil es Wahrheiten gibt, in die wir nicht hineinpassen.“ 198<br />

Balázs’ Kriegsphantasien kreisen um Motive, die mit der paradoxen Weihe eines sinnlosen Aktes<br />

versehen sind: Wiedergeburt, Vermählung, Heimkehr und Übergang. Balázs’ Krieg ist im Ganzen<br />

ein Ritual der Initiation.<br />

6.5 Übergangsriten und Magie<br />

Das Realitätsprinzip und das Prinzip der Magie schließen einander nicht aus. Edgar Morin betont in<br />

seiner anthropologischen Untersuchung über das Kino, wie Magie und Naturerkenntnis auf dem<br />

Felde der Symbole komplementär aufeinander wirken.<br />

„Lévy-Bruhl hat unaufhörlich gezeigt, daß die archaischen Menschen zwar glauben, ein Hexenmeister<br />

habe einen der ihren getötet, aber deshalb doch wissen, daß er von einem Krokodil im Fluß<br />

gefressen wurde. Jedes Objekt und jedes reale Ereignis hat ein offenes Fenster zum Irrealen, das<br />

Irreale kehrt seine Front dem Realen zu.“ 199 Archaische Jäger wissen, so führt Morin aus, dass sie<br />

das Wild mit Pfeil und Lanze erlegen müssen. Doch zugleich „praktizieren sie <strong>am</strong> Bilde des Tieres<br />

den vorbereitenden Zauber, die mimischen Versöhnungsriten“. 200<br />

Lucien Lévy-Bruhl hatte in seinen soziologischen Studien über die sogenannten „Naturvölker“ die<br />

Bedeutung der „Kollektivvorstellungen“ als Grundlage des Gesellschaftlichen betont. Das „primitive“,<br />

magische Denken schien ihm Ausdruck einer tiefverwurzelten „Abneigung gegen das<br />

verstandesmäßige Denken, [...] gegen alles, was die Logiker als diskursive Operation des Denkens<br />

bezeichnen.“ 201 D<strong>am</strong>it trat er zugleich der gängigen Anschauung entgegen, in den Formen des<br />

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Fehér, „Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution 1918“, S. 151.<br />

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Balázs, Lélek a haboruban, S. 135.<br />

199<br />

Morin, Der Mensch und das Kino, S. 173. Vgl. z.B. Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven.<br />

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959, S. 344 [Originalausgabe: La mentalité primitive].<br />

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Morin, Der Mensch und das Kino, S. 173.<br />

201 Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, S. 5.<br />

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