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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Er selbst, schreibt Balázs ins Tagebuch, wäre aus dem Krieg sinnlicher zurückgekehrt, „meine<br />

Nerven wurden hundertmal empfindlicher für das Leben, dem ich doch erhalten blieb, für alles<br />

Sichtbare, das ich erneut sah, erneut das erste Mal, denn ich bek<strong>am</strong> es ja erneut geschenkt. Meine<br />

Instinkte haben sich empfindlicher und durstiger an die Welt herangetastet, aus der ich fast<br />

herausgefallen bin.“ 187 Zugleich aber lässt er offen, ob es ihm tatsächlich gelungen sei, seine<br />

Erfahrungen zu beschreiben, oder seine Schilderungen einem „Traum-Film“ gegolten haben, der sich<br />

zwischen die Realität und seine Psyche geschoben hat.<br />

Im März 1915, sein Tagebuch wieder aufnehmend, schreibt er lakonisch: „Ich war zwischendurch im<br />

Krieg. [...] obwohl ich überall gewesen bin, gibt es vielleicht kaum einen zweiten Soldaten, der so<br />

wenig von dem Schrecken des Krieges gesehen hat wie ich.“ 188<br />

Auch was er selbst gesehen habe, „blieb wie hinter Nebel und fremdartig. Tief berührt mich allein<br />

das, was etwas bedeutet, und das körperliche Leiden bedeutet nichts.“ 189 Der Tod im Krieg, zu<br />

dessen Zeuge er sich machte, erwies sich als bedeutungslos, als kontingent, „unerwartet und<br />

inadäquat [...]. Nur der gewollte Tod hat ungeheure Bedeutung, und dabei auch nur der Wille und<br />

nicht, dass der Puls stehenbleibt.“ 190<br />

Walter Benj<strong>am</strong>in hat, fast zwanzig Jahre später, in seinem Aufsatz „Erfahrung und Armut“ die<br />

Sprachlosigkeit vieler Soldaten angesichts der zerstörerischen Potenzierung der Technik im Kriege<br />

als ein neues Barbarentum beschrieben. Die Menschen seien nicht reicher, sondern ärmer an<br />

mitteilbarer Erfahrung aus dem Kriege zurückgekehrt. „Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser<br />

ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen“ 191 , die auch Lukács als<br />

Rationalisierung des Krieges, als kaltes Expertentum beschrieben hatte. Doch diese Armut an<br />

Erfahrung , so behauptet Benj<strong>am</strong>in, schon gegen den überwältigenden „Faschismus“ anschreibend,<br />

„ist Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und d<strong>am</strong>it eine Art<br />

von neuem Barbarentum. Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff<br />

des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt<br />

ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem<br />

187<br />

Ebd., S. 30.<br />

188<br />

Balázs, Napló 1914-1922, S. 27. Eintrag vom 19.3.1915.<br />

189<br />

Ebd.<br />

190<br />

Ebd.<br />

191<br />

Walter Benj<strong>am</strong>in, „Erfahrung und Armut“ [1933], in: ders., Ges<strong>am</strong>melte Schriften. II.1 [werkausgabe Band 4].<br />

<strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: Suhrk<strong>am</strong>p, 1980, S. 214.<br />

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