Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz
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der kommenden Wandlung, das „nicht wissende Wissen“ 66 lässt das wirklich Neue erhoffen. Doch dies - „wo aber die Zeit wirklich neu werden will, da liegen die Elemente der Zukunft unerkennbar tief in der Gegenwart“ 67 - ist zugleich doch nur das wesenhaft Ewige, das „Eigne des deutschen Geistes und in dieser Form nur des deutschen Geistes“ 68 , der so „oft aus der Bahn unserer eigensten Kraft, unseres eigensten Selbst geworfen“ 69 worden sei. Mit dem Exzess der Entfremdung, mit „Mammonismus“ 70 und „Spezialistentum“ 71 , vor allem aber mit den Abirrungen von „Individualismus und Weltbürgertum“ 72 werde Schluss sein, das immerhin weiß Simmel, und unausweichlich sei dieser Krieg durch eben jene, allzulange hingenommene Unbestimmtheit des deutschen Wesens gegenüber dem romanischen Wesen geworden, dessen Andersartigkeit sich nun, im Kriege, schlagartig enthülle. Simmels relativistische Philosophie des „individuellen Gesetz“, die Behauptung der Differenz gegenüber den einebnenden Systemen, schlägt nun, sich des Zweifels als Korrektiv begebend, in nationale „Ontologie“ um. Siegfried Kracauer hat das Paradox einer solchen, substantialistischen nationalen Rhetorik in seinem Roman Ginster treffen karikiert. „Ginster sah ein, daß er, ohne es zu ahnen, für immer in einem bestimmten Wesen gefangen sei, das ihn ebenso bedingte, wie die militärische Stammrolle, aus der seine Lebensdaten folgten. Wenn er unter den westlichen Völkern aufgewachsen wäre, hätte er ein ihm feindliches Wesen gehabt. Dem Banne der Völkerwesen schien einzig Professor Caspari entronnen zu sein, der sie alle überschaute und wie ein Zauberer so lange mit ihnen verfuhr, bis der Krieg unvermeidlich wurde.“ 73 Simmels Interpretation des Krieges wird durch das Grauen nicht erschüttert, auch nicht durch den endlosen, Menschen in Material verwandelnden Stellungskrieg. 1917 beschwört er, gegen Internationalismus und Kosmopolitismus, „oder wie all die wohlklingenden Übertäubungen der Entwurzeltheit heißen“ 74 , die „Idee Europa“, die in diesem Krieg verloren gegangen sei, verloren, aber nicht gestorben. Und er sieht Deutschland als den Keim ihres zukünftigen Lebens: „Die Idee Deutschland wird die Universalerbin der Kräfte, die nach jener sich hinstreckten [...] darum wissen wir, daß das in seinen eigenen Grenzen erstarkte, in sich immer echter gewordene Deutschtum an 66 Ebd., S. 12. 67 Ebd. 68 Georg Simmel, „Die Dialektik des deutschen Geistes“, in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1917, S. 40. 69 Ebd., S. 41. 70 Simmel, „Deutschlands innere Wandlung“, S. 14. 71 Ebd., S. 16. 72 Simmel, „Die Dialektik des deutschen Geistes“, S. 40. 73 Siegfried Kracauer, Ginster. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973 [1928], S. 120. 74 Georg Simmel, „Die Idee Europa“, in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1917, S. 71. 183
einem fernen Tage der Idee Europa ein neues Leben, mächtiger und weiter wohl als alles frühere, geben und sie an ihre Unsterblichkeit erinnern wird.“ 75 Für Simmel ist diese „Idee Europas“ nach wie vor der polare Gegensatz zu jeder Idee einer universalen Menschheit - und, wie aus seinen letzten Briefen deutlich wird, ein freilich schwacher Hoffnungsanker angesichts des kommenden Sieges Amerikas in diesem Krieg (den er nun als „Selbstmord Europas zugunsten Amerikas“ 76 bezeichnet), Ausdruck einer „Todfeindschaft gegen alle Bürgerlichkeit, gegen alle Mechanisierung und Amerikanisierung“ 77 , die er kurz vor seinem Tod noch einmal als die „deutsche Hoffnung“ 78 der Jugend bezeichnen wird. Georg Simmel stand freilich nicht allein mit solchen, die offiziellen Legitimierungen des Krieges sprengenden Visionen. Für den Maler Franz Marc war der Krieg kein Kampf der „Zentralmächte gegen einen äußeren Feind, auch nicht eine Rasse gegen die andre, sondern dieser Großkrieg ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes“ 79 , für den es „nur eine Rettung“ gäbe, „das uralte Mittel des Blutopfers. [...] Ein tiefes völkergemeinschaftliches Blutopfer [...], das alle um eines gemeinsamen Zieles willen bringen.“ 80 Auch Max Scheler sieht, ähnlich wie Balázs, im Krieg keinen Kampf gegeneinander, sondern die „stärkste Kraft der Menscheneinigung“. 81 Hans von Eckhardt 82 schließlich, dessen Bekanntschaft Lukács in Heidelberg machte und dem er manche Quelle für seine Beschäftigung mit dem russischen Terrorismus verdankte, schrieb Lukács am 22. Oktober 1914 einen Brief, in dem er dessen Einwände gegen seine Begeisterung für den Krieg mit folgenden „Argumenten“ zu widerlegen sucht: „Gern hörte ich von Ihnen, lieber Lukács, ob was ich meine, Ihnen sehr töricht erscheint“ 83 , er müsse in den Krieg, sehne sich nach der großen Hingabe dieser „Erhebung“, die ihn zur Reife bringe. Dieser 75 Ebd., S. 72. 76 Georg Simmel an Hermann Keyserling, 25.3.1918, in: ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. von Michael Landmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968, S. 243. 77 Georg Simmel an Hermann Keyserling, 18.5.1918, in: ebd., S. 246. 78 Ebd. Simmel zweifelt zugleich an der „Substanzialität des Wesens“ dieser revolutionären Jugend: „Von allen habe ich den Eindruck, sie können alle auch anders - es ist schließlich ein Zufall der Situation und nicht von innen her notwendig, ob sie reaktionär oder revolutionär, freigeistig oder katholisierend, autoritär oder anarchisch sind. [...] Wenn aber diese Menschen oder ihresgleichen die Führer des künftigen Deutschlands würden, so wäre mir dies nicht viel anderes als ein Mene Tekel.“ (Georg Simmel an Hermann Keyserling, 5.7.1918, ebd., S. 249) 79 Franz Marc, „Das geheime Europa“, in: ders., Schriften. Hg. von Klaus Lankheit. Köln: DuMont, 1978, S. 165. 80 Ebd., S. 163. Europa kämpfe, um „mit Worringer zu reden, gegen die Hysterie und die alternden verkalkenden Elemente seines Leibes.“ (Ebd., S. 167) 81 Scheler, „Der Genius des Krieges“, S. 1349. 82 Hans von Eckhardt (1890-1917), in Riga geborener deutscher Gesellschaftsphilosoph, den Lukács in Heidelberg kennengelernt hatte. Lukács bemühte sich, für eine von Hans von Eckhardt geplante Memoirensammlung aus den russischen Revolutionsjahren 1904-1907 einen Verleger zu finden. 83 Hans von Eckhardt an Georg Lukács, 22.10.1914, in: Lukács, Briefwechsel, S. 342. 184
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dies - „wo aber die Zeit wirklich neu werden will, da liegen die Elemente der Zukunft unerkennbar<br />
tief in der Gegenwart“ 67 - ist zugleich doch nur das wesenhaft Ewige, das „Eigne des deutschen<br />
Geistes und in dieser Form nur des deutschen Geistes“ 68 , der so „oft aus der Bahn unserer eigensten<br />
Kraft, unseres eigensten Selbst geworfen“ 69 worden sei. Mit dem Exzess der Entfremdung, mit<br />
„M<strong>am</strong>monismus“ 70 und „Spezialistentum“ 71 , vor allem aber mit den Abirrungen von „Individualismus<br />
und Weltbürgertum“ 72 werde Schluss sein, das immerhin weiß Simmel, und unausweichlich sei dieser<br />
Krieg durch eben jene, allzulange hingenommene Unbestimmtheit des deutschen Wesens gegenüber<br />
dem romanischen Wesen geworden, dessen Andersartigkeit sich nun, im Kriege, schlagartig enthülle.<br />
Simmels relativistische Philosophie des „individuellen Gesetz“, die Behauptung der Differenz<br />
gegenüber den einebnenden Systemen, schlägt nun, sich des Zweifels als Korrektiv begebend, in<br />
nationale „Ontologie“ um. Siegfried Kracauer hat das Paradox einer solchen, substantialistischen<br />
nationalen Rhetorik in seinem Roman Ginster treffen karikiert. „Ginster sah ein, daß er, ohne es zu<br />
ahnen, für immer in einem bestimmten Wesen gefangen sei, das ihn ebenso bedingte, wie die<br />
militärische St<strong>am</strong>mrolle, aus der seine Lebensdaten folgten. Wenn er unter den westlichen Völkern<br />
aufgewachsen wäre, hätte er ein ihm feindliches Wesen gehabt. Dem Banne der Völkerwesen schien<br />
einzig Professor Caspari entronnen zu sein, der sie alle überschaute und wie ein Zauberer so lange<br />
mit ihnen verfuhr, bis der Krieg unvermeidlich wurde.“ 73<br />
Simmels Interpretation des Krieges wird durch das Grauen nicht erschüttert, auch nicht durch den<br />
endlosen, Menschen in Material verwandelnden Stellungskrieg. 1917 beschwört er, gegen<br />
Internationalismus und Kosmopolitismus, „oder wie all die wohlklingenden Übertäubungen der<br />
Entwurzeltheit heißen“ 74 , die „Idee Europa“, die in diesem Krieg verloren gegangen sei, verloren,<br />
aber nicht gestorben. Und er sieht Deutschland als den Keim ihres zukünftigen Lebens: „Die Idee<br />
Deutschland wird die Universalerbin der Kräfte, die nach jener sich hinstreckten [...] darum wissen<br />
wir, daß das in seinen eigenen Grenzen erstarkte, in sich immer echter gewordene Deutschtum an<br />
66<br />
Ebd., S. 12.<br />
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Georg Simmel, „Die Dialektik des deutschen Geistes“, in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen.<br />
München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1917, S. 40.<br />
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Ebd., S. 41.<br />
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Simmel, „Deutschlands innere Wandlung“, S. 14.<br />
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Ebd., S. 16.<br />
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Simmel, „Die Dialektik des deutschen Geistes“, S. 40.<br />
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Siegfried Kracauer, Ginster. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: Suhrk<strong>am</strong>p, 1973 [1928], S. 120.<br />
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Georg Simmel, „Die Idee Europa“, in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. München/Leipzig:<br />
Duncker & Humblot, 1917, S. 71.<br />
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