Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Individuums, die der Terrorist, aus jeder bestehenden menschlichen Gemeinschaft heraustretend, erleidet, an der Schwelle zur Aufhebung des Individuums überhaupt. Balázs zielt auf eine „Kunst des Schmerzes“ 37 , in dem sich das narzisstische Ich selbst zu bestätigen vermag, in dem es in der Überschreitung seiner Grenzen den Raum, der es umfängt, zu kontrollieren vermeint. Die Spuren dieser paradoxen Attitüde der Selbstvergewisserung durch einen Akt kontrollierter Selbstaufgabe lassen sich durch die Schriften der Kriegsjahre hindurch immer deutlicher erkennen. 6.2 Der Krieg als Wiedergeburt Balázs interpretiert die Verschmelzung mit dem Kollektiv der leidenden Soldaten als Neugeburt: „Wie konnte ich aus meinem tausendfach unterstrichenen, immer sich selbst beleuchtenden, allem fremden Wanderleben hinübergeboren werden, in jenes andere, in dem ich eins mit der Seele von neunhundertsechzig Menschen, eins mit ihrem Leib war.“ 38 Die Hoffnung auf erlösende „Wiedergeburt“, das Überschreiten der Grenze zwischen dem Ich und der Gemeinschaft, mündet in die Vorstellung einer leibhaft verschmolzenen Massenseele, in die er sich auflösen will. Anders als die kritische Intelligenz Ungarns, die aus der spezifischen Lage des Teilstaates heraus auf Distanz zur allgemeinen Kriegsbegeisterung geht und vor allem die Bedrohung des prekären Vielvölkerstaates spürt, fasziniert Balázs die Vorstellung einer reinigenden Wiedergeburt, des kollektiven Durchgangs durch das Erlebnis des Todes, also eine Initiation im großem Maßstab, so wie große Teile der kritischen Intelligenz im Deutschen Reich. Indem der Krieg alle Sicherheiten des bürgerlichen Alltags in Frage stellt, setzt er emotionale Energien frei, deren Gewalt von ihren eigenen Opfern als lustvolle Entfesselung empfunden wird. Thomas Mann hat die eigene Euphorie später im Dr. Faustus selbstkritisch erinnert. „Eine solche ‘Mobilisierung’ zum Kriege, wie grimmig-eisern und allerfassend-pflichthaft sie sich geben möge, hat immer etwas vom Ausbruch wilder Ferien, vom Hinwerfen des eigentlich Pflichtgemäßen, von einem Hinter-die-Schule-Laufen, einem Durchgehen zügelunwilliger Triebe.“ 39 Der Krieg, der wie kein anderes Ereignis zuvor das Ganze der Gesellschaft unter die Herrschaft einer Befehlsstruktur zwingt, 37 Fehér, „Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution“, S. 163. 38 Balázs, Lélek a haboruban, S. 11. 39 Thomas Mann, Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1967 [1947], S. 300. 177

den Handlungsspielraum des Einzelnen radikal reduziert, Verhaltensweisen streng konditioniert und Abweichungen existentiell bedroht, wird zugleich als die große Erlaubnis, als Befreiung empfunden, als „offene, unwiderrufliche, von Angesicht zu Angesicht befreiende, faire Geste“. 40 Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit projiziert sich auf die Disziplin der Marschkolonnen, die Balázs schon 1905, beim Anblick einer Husaren-Kompanie, fasziniert hatte. „Sich wiegende Federbüsche, glitzernde Säbel, blitzende Augen und das Dröhnen der Brücke. Ich blieb bis zum Schluß stehen. Es hat mir gefallen. Ich fühlte eine Art wildes Entzücken, das so stark war, dass es mich überraschte.“ 41 Lustvoll wird erst recht die Unterwerfung unter die „Autorität“ einer unausweichlichen Gefahr empfunden, unter das Diktat einer Situation, die nur noch zwei Arten von Handlungen kennt: zum Überleben geeignete und das eigene Leben gefährdende. Und eine ganze Generation junger deutscher Intellektueller interpretiert diese unbedingte Hingabe an den Augenblick, die Verschmelzung von Handlung und Situation, als Initiationserlebnis, auf das nur noch etwas radikal Neues folgen könne. „In den Augen der Deutschen sollte dieser Krieg ein Befreiungskrieg werden, ein vernichtender Schlag gegen die Heuchelei bürgerlicher Formen und Bequemlichkeit“ 42 , schreibt Modris Ekstein in seiner Studie über die Geburt der Moderne und den ersten Weltkrieg. Innerhalb weniger Tage, zwischen den letzten größeren, von den Sozialdemokraten organisierten Antikriegsdemonstrationen am 28. Juli und der deutschen Kriegserklärung an Russland am 2. August 1914, war die öffentliche Stimmung in Deutschland in radikaler Weise umgeschwenkt und in eine euphorische Kriegsbegeisterung eingemündet. „Noch bis zum September 1914 konnten weder Regierung noch Militärs konkrete Kriegsziele vorweisen, alles was man hatte, war eine Strategie und eine Vision - die Vision einer Expansion Deutschlands in einem eher existentiellen als physischen Sinne.“ 43 Zu dieser Euphorie, die den Krieg zu einer sakralen Handlung stilisierte, gehörte offenkundig, dass gerade nicht um konkrete Ziele, materielle, territoriale oder andere politische Forderungen gekämpft wurde, das seine Ziele im Dunkeln, oder genauer: im gleißenden Licht des unerkennbar Neuen lagen. So unkonkret die militärischen Ziele waren, so unbegrenzt war auch der „sittliche Gehalt“, der dem Krieg zugemessen wurde. 40 Balázs, Lélek a haboruban, S. 134. 41 Balázs, Napló 1903-1914, S. 223. Eintrag vom 15.9.1905. 42 Modris Ekstein, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der erste Weltkrieg. Reinbek: Rowohlt, 1990, S. 14. Eksteins Buch untersucht nicht nur die öffentlichen Stellungnahmen zum Krieg in Deutschland, Frankreich und England, sondern vor allem die Wahrnehmung des Krieges aus der Perspektive der Soldaten, wie sie in biographischen Quellen (Briefen, Tagebüchern, Memoiren) überliefert ist. Vgl. dazu als zeitgenössich propagandistische Quelle auch Philipp Witkop (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten. Gotha: F.A. Perthes, 1916. 43 Ekstein, Tanz über Gräben, S. 143. 178

Individuums, die der Terrorist, aus jeder bestehenden menschlichen Gemeinschaft heraustretend,<br />

erleidet, an der Schwelle zur Aufhebung des Individuums überhaupt. Balázs zielt auf eine „Kunst des<br />

Schmerzes“ 37 , in dem sich das narzisstische Ich selbst zu bestätigen vermag, in dem es in der<br />

Überschreitung seiner Grenzen den Raum, der es umfängt, zu kontrollieren vermeint. Die Spuren<br />

dieser paradoxen Attitüde der Selbstvergewisserung durch einen Akt kontrollierter Selbstaufgabe<br />

lassen sich durch die Schriften der Kriegsjahre hindurch immer deutlicher erkennen.<br />

6.2 Der Krieg als Wiedergeburt<br />

Balázs interpretiert die Verschmelzung mit dem Kollektiv der leidenden Soldaten als Neugeburt:<br />

„Wie konnte ich aus meinem tausendfach unterstrichenen, immer sich selbst beleuchtenden, allem<br />

fremden Wanderleben hinübergeboren werden, in jenes andere, in dem ich eins mit der Seele von<br />

neunhundertsechzig Menschen, eins mit ihrem Leib war.“ 38 Die Hoffnung auf erlösende<br />

„Wiedergeburt“, das Überschreiten der Grenze zwischen dem Ich und der Gemeinschaft, mündet in<br />

die Vorstellung einer leibhaft verschmolzenen Massenseele, in die er sich auflösen will. Anders als die<br />

kritische Intelligenz Ungarns, die aus der spezifischen Lage des Teilstaates heraus auf Distanz zur<br />

allgemeinen Kriegsbegeisterung geht und vor allem die Bedrohung des prekären Vielvölkerstaates<br />

spürt, fasziniert Balázs die Vorstellung einer reinigenden Wiedergeburt, des kollektiven Durchgangs<br />

durch das Erlebnis des Todes, also eine Initiation im großem Maßstab, so wie große Teile der<br />

kritischen Intelligenz im Deutschen Reich.<br />

Indem der Krieg alle Sicherheiten des bürgerlichen Alltags in Frage stellt, setzt er emotionale<br />

Energien frei, deren Gewalt von ihren eigenen Opfern als lustvolle Entfesselung empfunden wird.<br />

Thomas Mann hat die eigene Euphorie später im Dr. Faustus selbstkritisch erinnert. „Eine solche<br />

‘Mobilisierung’ zum Kriege, wie grimmig-eisern und allerfassend-pflichthaft sie sich geben möge, hat<br />

immer etwas vom Ausbruch wilder Ferien, vom Hinwerfen des eigentlich Pflichtgemäßen, von einem<br />

Hinter-die-Schule-Laufen, einem Durchgehen zügelunwilliger Triebe.“ 39 Der Krieg, der wie kein<br />

anderes Ereignis zuvor das Ganze der Gesellschaft unter die Herrschaft einer Befehlsstruktur zwingt,<br />

37<br />

Fehér, „Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution“, S. 163.<br />

38<br />

Balázs, Lélek a haboruban, S. 11.<br />

39<br />

Thomas Mann, Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>: S. Fischer, 1967<br />

[1947], S. 300.<br />

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