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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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I.<br />

Eine Ästhetik des (kleinen) Todes<br />

Begegnungen in Berlin 1906-1907<br />

„In Berlin, 22. Oktober 1906<br />

Ich habe ein Zimmer, anderthalb Schritte breit, sechs Schritte lang. Sitze ich zu lange darin, glaube<br />

ich gar nicht, dass es draußen auch noch ein Raum und darin Dinge gibt. Als gäbe es nur die Zeit, die<br />

Gedanken und die Phantasie und sonst nichts. Ich ringe. Fremde Geräusche, fremde Lichter ...<br />

unbekanntes Dröhnen, durch Rauch und Nebel aufscheinende Fl<strong>am</strong>men, strömende Wasser. Sogar<br />

die sich hochtürmenden großen Häuser sind riesige, braune Steinwellen. Das alles will mich unter sich<br />

begraben. Das alles muss ich überwinden, bezwingen und beherrschen. Jetzt müssen die Spiralfedern<br />

in mir springen, die zu Hause unnatürlicherweise zus<strong>am</strong>mengedrückt wurden.“ 1<br />

Im Oktober 1906 hatte Béla Balázs ein Stipendium angetreten, das ihm Studienaufenthalte in Berlin<br />

und Paris ermöglichen sollte. Balázs arbeitete an seiner Dissertation über die Theorie des Dr<strong>am</strong>as,<br />

eine Abhandlung über Friedrich Hebbels Pan-Tragismus als Resultat der romantischen<br />

Weltanschauung. 2 Emphatisch hatte er seinen fünfmonatigen Berlin-Aufenthalt angetreten. Noch in<br />

Budapest hatte er in seinem Tagebuch notiert: „Ich fühle in mir ungenutzte, verschleuderte, schmutzig<br />

gewordene Kräfte pochen ... Hier gibt es nichts, hier gibt es niemanden, der sie befreien könnte.<br />

Raus hier, bevor ich noch ersticke.“ 3<br />

Balázs hatte immer wieder mit jugendlichem Überschwang seine Aspirationen im Tagebuch<br />

bekräftigt, träumte von einer Zukunft als Erneuerer der ungarischen Kultur. Balázs’<br />

Selbststilisierungen als unverstandenes Genie durchziehen sein Tagebuch wie ein laufender<br />

Kommentar, der gegen die triste Wirklichkeit das Reich der Wünsche vertritt, Klage und Bekenntnis<br />

einer Künstlereins<strong>am</strong>keit, die nach höherer Gemeinschaft verlangt: „Womöglich bin ich irre, aber<br />

dass ich nicht unter die Menschen gehöre, das ist sicher. Es ist nicht wahr, dass ich rücksichtslos bin.<br />

Ich liebe euch. Ich habe euch geliebt. Das Leben war angesichts eurer Gefühllosigkeit eine Qual, ich<br />

habe seit langem den unüberbrückbaren Abgrund gespürt. Seit langem. Aber ich habe mich selbst<br />

1 Béla Balázs, Napló 1903-1914, S. 355. Eintrag vom 22. Oktober 1906.<br />

2 Herbert Bauer [d.i. Béla Balázs], Hebbel Frigyes pántragizmusa, mint a romantikus világnézlet eredménye.<br />

Budapest: Franklin, 1909.<br />

1

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