Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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VI. „Es ist Krieg!“ Wege zu Masse und Gemeinschaft 1914-1918 6.1 Beziehungen „Zu dritt! So ist es jetzt. Edith, Anna und ich. Harmonisch schön.“ 1 Am 20. August 1914 notiert Balázs überschwenglich in sein Tagebuch: „Es scheint, dass jede misstrauische Eifersucht, alle problematische Unsicherheit zwischen uns zu Ende ist. Wir lieben uns. Nicht wir zwei, sondern alle drei. Es kann sein, dass es bloß ein menschliches Vorurteil war, dass die absolute Zusammengehörigkeit, die totale, bis an die Wurzel reichende Beziehung nur zwischen zwei Menschen existieren kann. Denn das religiöse Ideal, die mystische Rose, von Millionen umschlungen [Deutsch im Original], in der jeder zu jedem Liebe findet, ist die endgültige Einheit. Und der erste Schritt dazu ist unser Dreiklang.“ 2 Balázs’ Interesse an Mystik und Spiritualismus hatte Anfang 1914 einen neuen Ausdruck gefunden. Balázs war der Theosophischen Gesellschaft beigetreten. Im Februar begegnete er dort bei einem der wöchentlichen Treffen Anna Schlamadinger 3 , einer verheirateten Frau, die seine Schriften bewunderte und bald auch ihn. Balázs’ Ehe mit Edith Hajós, von ihren schweren, immer wiederkehrenden Depressionen und Balázs’ Ausschweifungen überschattet, ging in den Schwebezustand einer dezidiert offenen Beziehung über. Balázs deutete nach wie vor alle Wendungen seines Lebens gleichermaßen als Ausdruck einer utopischen Philosophie und einer neuen Ästhetik. Die Dreierbeziehung als Lebensexperiment sollte nun zugleich programmatischer Entwurf einer neuen Ethik sein. In seinem Tagebuch notiert er, vermutlich schon im Februar 1914: „Die große Einsamkeit: Das Ergebnis ist, dass ich verliebt bin. Es ist kein Spiel. Es ist eine ernste Liebe. Groß, schön, betrunken, romantisch Tore öffnend.“ 4 Doch Balázs zögert, sich der Neigung zu Anna mit allen Konsequenzen 1 Balázs, Napló 1914-1922, S. 18. Eintrag vom 20.8.1914. 2 Ebd., S. 18f. Die präzise Übersetzung lautet: „unser Dreier“. 3 Anna Schlamadinger (geborene Hamvassy; 1875-1956) war damals mit dem Richter Jenö Schlamadinger verheiratet. 4 Balázs, Napló 1903-1914, S. 622. Eintrag nicht datiert, vermutlich Februar 1914. 169

hinzugeben. „Ediths Leben hängt auch an mir. Ich habe es angenommen und ich kann es nicht fallen lassen.“ 5 Als Edith von Anna erfährt, verblüfft sie Balázs mit Großzügigkeit, ihrer einzigen Waffe, und bietet Anna die Freundschaft an. „Es ist fast so“, notiert Balázs,“ als würde diese Großzügigkeit zwischen uns [Balázs und Anna] stehen.“ 6 Die Freundschaft zwischen Edith und Anna bleibt prekär bis zum Sommer. Doch dann bricht der Weltkrieg aus. Am 28. Juni 1914 fällt der habsburgische Thronfolger Erzherzog Ferdinand einem Attentat in Sarajevo zum Opfer. Und einen Monat später, nach Ultimaten und nicht erfüllten Forderungen, erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Innerhalb weniger Tage sind das Deutsche Reich, Russland und Frankreich in den Krieg eingetreten. Der Kriegseintritt Englands folgt unmittelbar auf die Verletzung der belgischen Neutraliät durch das Deutsche Reich. Auch für Balázs scheinen sich alle existentiellen Fragen, bislang oft genug eher hypothetischer Natur, nun radikal und konkret zu stellen. Unter dem Eindruck der allgemeinen Bedrohung wird das Beziehungsdreieck zum Ruhepunkt inmitten eines Sturms. Und Balázs gibt ihm die Weihe eines kollektiven Aufbruchs: die Einübung einer exemplarischen Existenz als erotische Gemeinschaft soll die Überwindung der Entfremdung des bürgerlichen Lebens ein für allemal symbolisieren. Balázs artikuliert, anders als die meisten seiner Freunde und Bekannten, von Lukács bis Anna Lésznai, anders als die Literaten des widersprüchlichen Kreises um Nyugat, von Mihály Babits bis Endre Ady 7 , in seinem Tagebuch konvulsivische Begeisterung für den Krieg: „Oft habe ich auch gesagt, dass ein großer Krieg das moralische Bad der Völker sein werde, nicht ohne Eigennutz hoffend, dass er deren Sinn für die große Ethik und die Tragödie öffnet und dass ihre Seelen das Wunder des Geruchs des Todes fühlen werden. Ich muss meine eigenen Konsquenzen ziehen und in den Krieg gehen.“ 8 Balázs will dazugehören, will seinen „monomanische[n] Individualismus“ 9 besiegen, eine „Schuld begleichen“. 10 Und immer spricht er davon, dass er nun die 5 Ebd., S. 620. 6 Ebd., S. 642. 7 Im Nyugat schrieb Anna Lesznai: „Ady spricht in einigen, Babits in fast jedem Gedicht vom Krieg. [...] Ady nimmt den Krieg so hin wie es die Erde selbst und die großen Ströme täten, wenn sie ein Selbstbewußtsein und eine Sprache hätten. Es ist Krieg, würden sie sagen, aber die göttlichen Wunder in uns sind größer.“ (Anna Lesznai, „Új ének a végekröl“ [Neues Lied von den Grenzen], in: Nyugat, Bd. 2, 1915, S. 292ff, zit. nach Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 491. Ady, so schreibt Horváth, hätte sich in der „Stunde des Ekels“ (so der Titel eines Gedichts aus dem Jahre 1913) verzweifelt seine Erschütterung eingestanden: „Wohl hundertmal versuchte ich zu bannen/Der düstren Ahnung und des Grolls Gezücht,/Zu schwimmen mit den andren auf dem Strome - /Doch nein, o nein, ich darf, ich darf es nicht,/Mein Teil ist Unversöhnlichkeit und Ekel.“ (Zit. nach Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 491) 8 Balázs, Napló 1914-1922, S.10. Eintrag vom 12.8.1914. 9 Ebd., S. 9. 170

hinzugeben. „Ediths Leben hängt auch an mir. Ich habe es angenommen und ich kann es nicht fallen<br />

lassen.“ 5 Als Edith von Anna erfährt, verblüfft sie Balázs mit Großzügigkeit, ihrer einzigen Waffe, und<br />

bietet Anna die Freundschaft an. „Es ist fast so“, notiert Balázs,“ als würde diese Großzügigkeit<br />

zwischen uns [Balázs und Anna] stehen.“ 6 Die Freundschaft zwischen Edith und Anna bleibt prekär<br />

bis zum Sommer.<br />

Doch dann bricht der Weltkrieg aus. Am 28. Juni 1914 fällt der habsburgische Thronfolger<br />

Erzherzog Ferdinand einem Attentat in Sarajevo zum Opfer. Und einen Monat später, nach<br />

Ultimaten und nicht erfüllten Forderungen, erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Innerhalb<br />

weniger Tage sind das Deutsche Reich, Russland und Frankreich in den Krieg eingetreten. Der<br />

Kriegseintritt Englands folgt unmittelbar auf die Verletzung der belgischen Neutraliät durch das<br />

Deutsche Reich.<br />

Auch für Balázs scheinen sich alle existentiellen Fragen, bislang oft genug eher hypothetischer Natur,<br />

nun radikal und konkret zu stellen. Unter dem Eindruck der allgemeinen Bedrohung wird das<br />

Beziehungsdreieck zum Ruhepunkt inmitten eines Sturms. Und Balázs gibt ihm die Weihe eines<br />

kollektiven Aufbruchs: die Einübung einer exemplarischen Existenz als erotische Gemeinschaft soll<br />

die Überwindung der Entfremdung des bürgerlichen Lebens ein für allemal symbolisieren. Balázs<br />

artikuliert, anders als die meisten seiner Freunde und Bekannten, von Lukács bis Anna Lésznai,<br />

anders als die Literaten des widersprüchlichen Kreises um Nyugat, von Mihály Babits bis Endre<br />

Ady 7 , in seinem Tagebuch konvulsivische Begeisterung für den Krieg:<br />

„Oft habe ich auch gesagt, dass ein großer Krieg das moralische Bad der Völker sein werde, nicht<br />

ohne Eigennutz hoffend, dass er deren Sinn für die große Ethik und die Tragödie öffnet und dass ihre<br />

Seelen das Wunder des Geruchs des Todes fühlen werden. Ich muss meine eigenen Konsquenzen<br />

ziehen und in den Krieg gehen.“ 8 Balázs will dazugehören, will seinen „monomanische[n]<br />

Individualismus“ 9 besiegen, eine „Schuld begleichen“. 10 Und immer spricht er davon, dass er nun die<br />

5 Ebd., S. 620.<br />

6 Ebd., S. 642.<br />

7 Im Nyugat schrieb Anna Lesznai: „Ady spricht in einigen, Babits in fast jedem Gedicht vom Krieg. [...] Ady<br />

nimmt den Krieg so hin wie es die Erde selbst und die großen Ströme täten, wenn sie ein Selbstbewußtsein und<br />

eine Sprache hätten. Es ist Krieg, würden sie sagen, aber die göttlichen Wunder in uns sind größer.“ (Anna<br />

Lesznai, „Új ének a végekröl“ [Neues Lied von den Grenzen], in: Nyugat, Bd. 2, 1915, S. 292ff, zit. nach Horváth,<br />

Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 491. Ady, so schreibt Horváth, hätte sich in der „Stunde des Ekels“ (so der<br />

Titel eines Gedichts aus dem Jahre 1913) verzweifelt seine Erschütterung eingestanden: „Wohl hundertmal<br />

versuchte ich zu bannen/Der düstren Ahnung und des Grolls Gezücht,/Zu schwimmen mit den andren auf dem<br />

Strome - /Doch nein, o nein, ich darf, ich darf es nicht,/Mein Teil ist Unversöhnlichkeit und Ekel.“ (Zit. nach<br />

Horváth, Die Jahrhundertwende in Ungarn, S. 491)<br />

8 Balázs, Napló 1914-1922, S.10. Eintrag vom 12.8.1914.<br />

9 Ebd., S. 9.<br />

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