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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Auch dem Kino gesteht Lukács eine eigene Metaphysik zu, und es ist nicht schwer, sie als die<br />

paradoxe Metaphysik des Märchens zu identifizieren. So „ausschließlich empirisch-lebenhaft,<br />

unmetaphysisch, daß durch diese seine äußerste Zuspitzung doch wieder eine andere, völlig<br />

verschiedene Metaphysik entsteht“. 48 Statt unerbittlicher Notwendigkeit, schicksalshafter Kausalität,<br />

gehorcht sie der „von nichts beschränkte[n] Möglichkeit“. 49 „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“ hörten<br />

auf, einander entgegengesetzte Kategorien zu sein, bildeten eine Identität: „‘Alles ist wahr und<br />

wirklich, alles ist gleich wahr und gleich wirklich’“, dies sei die „Weltanschauung des ‘Kino’“ 50 So<br />

entstünde eine neue, homogene Welt, „der in den Welten der Dichtkunst und des Lebens ungefähr<br />

das Märchen und der Traum entsprechen“ 51 , eine Welt, in der das Leben selbst dekorativ wird und<br />

der Hintergrund, die Natur und die Interieurs, die Pflanzen und Dinge lebendig werden. Lukács wird<br />

Balázs’ Begriff von Panpoesie nie wieder so nahe kommen wie hier. „Die für jede ‘große’ Kunst<br />

völlig gleichgültigen Errungenschaften der modernen Technik werden hier phantastisch und poetisch-<br />

packend wirken. Erst im ‘Kino’ ist - um nur ein Beispiel zu bringen - das Automobil poetisch<br />

geworden. [...] Die Möbel bewegen sich im Zimmer eines Betrunkenen, sein Bett fliegt mit ihm - er<br />

konnte sich noch im letzten Augenblick <strong>am</strong> Rande des Bettes festhalten und sein Hemd weht wie eine<br />

Flagge um ihn - über die Stadt hinaus. [...] Es sind Bilder und Szenen aus einer Welt, wie die von<br />

Hoffmann oder Poe war, wie die von Arnim oder von Barbey d’Aurevilly - nur ist ihr großer Dichter,<br />

der sie gedeutet und geordnet, der ihre bloß technisch zufällige Phantastik ins sinnvoll Metaphysische,<br />

in den reinen Stil gerettet hätte, noch nicht gekommen.“ 52 Der Aufsatz endet durchaus emphatisch, in<br />

der Hoffnung auf einen kommenden Dichter, der hier ein Instrument finden könnte, vergleichbar der<br />

griechischen Bühne für einen Sophokles.<br />

„Das ‘lebendige Leben’, meint Lukács, sei im Schein selbst Wirklichkeit geworden. Sollte sich diese<br />

Kunstform als paradigmatisch für die Epoche erweisen, dann würde jede ontologisch fundierte<br />

Hermeneutik hinfällig werden: Die Frage nach dem Sinn wäre grundsätzlich überholt; das ist<br />

zumindest die Konsequenz, vor der - hier im Gegensatz zu Lukács oder Heidegger - Benj<strong>am</strong>in in den<br />

dreißiger Jahren nicht zurückweichen wird.“ 53<br />

Lukács führte die Ansätze einer Medientheorie, einer fragilen Synthese von Empirie und Phantastik,<br />

von „Naturalismus“ und Metaphysik, wie sie in seinem Kino-Aufsatz aufblitzten, nicht fort, wie auch<br />

48 Ebd.<br />

49 Ebd., S. 302f.<br />

50 Ebd., S. 303.<br />

51 Ebd., S. 303.<br />

52 Ebd. S. 304f.<br />

53 Despoix, Ethiken der Entzauberung, S. 159.<br />

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