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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Umso bemerkenswerter ist Lukács’ frühe Schrift zum Kino, die 1911, zu einem Zeitpunkt, an dem,<br />

wie Lukács selbst schreibt, das Kino „bald als Instrument eines anschaulichen Unterrichts [...], bald<br />

als eine neue und billige Konkurrenz der Theater“ 41 aufgefasst wurde, die Forderung nach einer<br />

eigenständigen „Ästhetik des Kino“ erhebt. Ein „berühmter ungarischer Dr<strong>am</strong>atiker“ 42 , so heißt es<br />

zum Beginn der kleinen Schrift, phantasiere darüber, dass das Kino das Theater, durch<br />

„Vervollkommnung der Technik, durch vollendete Reproduzierbarkeit der Rede“ 43 ersetzen könne,<br />

eine d<strong>am</strong>als durchaus gängige Befürchtung, auch wenn der hier unbekannt Zitierte darin eine positive<br />

Vision erblickt. Lukács beschreibt hingegen eindringlich die auratische Gegenwart des Schauspielers<br />

auf der Bühne, die hier wieder ganz der Tragödie, dem „Ausdruck des Schicksalhaften“ 44 geweiht<br />

erscheint. Lukács’ Fragment zu einer Ästhetik des Kino setzt nun radikal an diesem Fehlen der<br />

Gegenwart an: Nur Bewegungen und Taten von Menschen, aber nicht die Menschen selbst, würden<br />

präsentiert, und dies sei kein Mangel, sondern ein „Leben von völlig anderer Art; sie werden - mit<br />

einem Wort - phantastisch“. 45 Die Phantastik des Kinos ist d<strong>am</strong>it weit entfernt, ein bloßer Effekt zu<br />

sein, und schon gar nicht ist es ein Genre bestimmter, kinogerechter Narrative und Stoffe. Das<br />

phantastische Leben, das Lukács im Kino erblickt, ist kein Gegensatz zum lebendigen Leben,<br />

sondern nur ein neuer Aspekt desselben: ein Leben ohne Gegenwart, „ohne Schicksal, ohne Gründe,<br />

ohne Motive: [...] es ist ein Leben ohne Maß und Ordnung, ohne Wesen und Wert; ein Leben ohne<br />

Seele, aus reiner Oberfläche.“ 46 Das Kino erscheint zugleich als reine Form der Zeit, als „Bewegung<br />

an sich“ 47 , als ewige Veränderlichkeit und Wandel der Dinge.<br />

Gegensatz zum Roman kennen Film und Novelle nicht die Totalität der Objekte, der menschlichen Beziehungen<br />

und deren Verhaltensweisen“. (Ebd., S. 590)<br />

41 Lukács, „Gedanken zu einer Aesthetik des ‘Kino’“, S. 300.<br />

42 Ebd. Lukács gibt keinen Hinweis darauf, wen er meinen könnte. Es erscheint eher zweifelhaft, dass Balázs, den<br />

Lukács selbst zu diesem Zeitpunkt als den einzigen ernstzunehmenden Dr<strong>am</strong>atiker Ungarns ansieht, mit der<br />

beiläufigen Floskel „berühmter ungarischer Dr<strong>am</strong>atiker“ gemeint sein könnte. Entsprechende Äußerungen Balázs<br />

aus dieser Zeit über das Kino sind nicht überliefert. In seinem Tagebuch erwähnt Balázs erst im November 1911<br />

Lukács’ Kino-Aufsatz, bezieht sich dabei aber auf Lukács’ Beschreibung der Rolle des Publikums im Theater, die<br />

„mystische Bedeutung der Präsenz im Dr<strong>am</strong>a“ (Balázs, Napló 1903-1914, S. 536. Eintrag vom 1.11.1911). Auch in<br />

seiner 1918 erscheinenden Dr<strong>am</strong>aturgie wird er darauf Bezug nehmen. (Béla Balázs, Dr<strong>am</strong>aturgia. Budapest:<br />

Benkö Gyula könyvkereskedése, 1918, S. 12f.)<br />

43 Ebd.<br />

44 Ebd., S. 301. „Darum ist das bloße Erscheinen eines wirklich bedeutenden Schauspielers auf der Bühne (der<br />

Duse etwa) selbst ohne großes Dr<strong>am</strong>a schon vom Schicksal geweiht, schon Tragödie, Mysterium, Gottesdienst.“<br />

(Ebd.) Parallelen zu Walter Benj<strong>am</strong>ins mehr als zwanzig Jahre später verfasstem Aufsatz über „Das Kunstwerk im<br />

Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ liegen auf der Hand. Vgl. dazu Schweinitz, „Georg Lukács’ frühe<br />

‘Gedanken zu einer Ästhetik des Kino’“, S. 707.<br />

45 Ebd., S. 302.<br />

46 Ebd.<br />

47 Ebd.<br />

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