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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Geradezu progr<strong>am</strong>matisch für Lukács’ spätere Realismustheorie und seinen Begriff der Gattungen als<br />

objektive Formgesetze 228 ist eine umfangreiche Passage des „Zwiegesprächs“, in der Joachim die<br />

von Vinzenz gebrauchte Metapher des Werkes als würdigen Spiegel der Welt zum Anlass nimmt,<br />

seine eigene Widerspiegelungstheorie des Kunstwerks, und d<strong>am</strong>it seine Theorie der „vollständigen<br />

Subjektivität“ 229 zu entfalten: „[W]ie muß der Spiegel beschaffen sein, d<strong>am</strong>it er alle Strahlen<br />

zurückwerfe, d<strong>am</strong>it er von der Welt ein vollständiges Bild gebe?“ 230 Nur eine Subjektivität, die fähig<br />

sei, ein Bild des Ganzen zu liefern, die nur Weg zur Wahrheit sei, ein Medium der Totalität, verdiene,<br />

ein „würdiger“ Spiegel genannt zu werden, „kurz gefaßt: der Künstler darf das ganze Ich ausdrücken<br />

- er muß es sogar - doch nur das ‘intelligible Ich’, nicht das ‘emprirische’“. 231 Sterne hingegen sei nur<br />

ein trüber Spiegel, eine Subjektivität, die sich als Hindernis „zwischen mir und den Lebensinhalten“ 232<br />

aufstelle, er häufe unorganische Fragmente an, seine Romane seien „formlos, weil sie bis ins<br />

Unendliche dehnbar sind“. 233<br />

Auch Vinzenz verfällt <strong>am</strong> Ende seinem empirischen Ich, verliert schließlich im letzten Dialog mit dem<br />

Mädchen vor dem Kusse sogar seinen N<strong>am</strong>en, „wird im Zustand des empirischen Glücks wieder<br />

‘Er’, so wie das Mädchen, als Repräsentantin des Lebens schlechthin“ 234 , den Status der Identität,<br />

einen N<strong>am</strong>en, gar nicht erst erworben hatte.<br />

Gegen die Unreinheit aller empirischen Wunscherfüllung steht schließlich das ethische Progr<strong>am</strong>m des<br />

Verzichts. „Und solange das nicht da ist: daß alles Berührung und alles gleichermaßen Berührung ist,<br />

solange ist gar nichts da. Ein Nichts ist die ‘Seelengemeinschaft’; und ein Nichts ist es, ‘verliebt’ zu<br />

genommen haben, sondern auch von jenem Urteilsspruch über sich selbst, der ihn, über das „reine Vorläufertum“<br />

hinaus, zum Hüter der „allerletzten Ursachen“ machte. Zu den möglichen Deutungen dieses faszinierenden<br />

Verhältnis von Orthodoxie, Selbstkritik und intellektueller Unabhängigkeit bei Lukács vgl. auch Istvan Eörsi, „The<br />

Unpleasant Lukács“, in: New German Critique, Nr. 42 (Vol. 14, H. 3, 1987), S. 3-16; Istvan Eörsi, „Das Recht des<br />

letzten Wortes“, in: Georg Lukács, Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog, <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>:<br />

Suhrk<strong>am</strong>p, S. 7-34 (und die entsprechenden Äußerungen von Lukács selbst); Hellenbart, König Midas in<br />

Budapest, S. 43-53.<br />

228<br />

Diese Gattungen als Formgesetze entsprechen dann nicht mehr nur einem bestimmten „Ausdrucksbedürfnis“<br />

(so formuliert er es hier noch in seinem Brief an Popper), sondern einer distinkten geschichtlichen Wahrheit.<br />

229<br />

Lukács, Die Seele und die Formen, S. 203.<br />

230<br />

Ebd., S. 204.<br />

231<br />

Ebd., S. 203.<br />

232<br />

Ebd., S. 204.<br />

233<br />

Ebd., S. 205. Christian Schneider zeigt, wie wenig es Lukács dabei noch um die Auseinandersetzung mit dem<br />

tatsächlichen Werk Sternes geht. Die Rettung der Identität des Kritikers als Vorbote der Erlösung gelingt „nur<br />

durch die Depotenzierung des ästhetischen Gegenstandes“ (Schneider, Essay, Moral, Utopie, S. 173).<br />

Joachim/Lukács nehmen sogar Goethe für ihr Urteil in Anspruch, Sterne sei ein „Dilettant“, ohne Takt und „Gefühl<br />

für das wirklich Wertvolle“. Von solcher Verachtung Goethes für Sterne kann, wie Schneider belegt, keine Rede<br />

sein. (Vgl. ebd., S. 293)<br />

234<br />

Lukács, Die Seele und die Formen, S. 178.<br />

117

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