Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz
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4.3 Dialoge: Panpoesie und Armut „Martha: ‘[...] Weißt du, wie das wahre Gespräch ist? Als würden unsere Seelen sich an der Hand nehmen und zusammen einen Ausflug machen in einen unbekannten Wald, nicht wissend, wohin sie gelangen werden. [...] dann würden wir gemeinsame Seelenabenteuer durchleben. Es würden neue Dinge geboren. [...] Fühlst du nicht, dass das Gespräch etwas wundervolles sein kann?’ Michael: ‘Ich fühle es so sehr, dass ich mich davor fürchte. [...] Ich fühle, dass der mystischste, größte Weltvorgang jetzt geschieht. Zwei Bewusstsein berühren sich! Der Dialog ist das zentrale, ja einzige wirkliche Ereignis der Geschichte. [...] Das ist der Kern, der Ursprung allen Geschehens.“ 178 Eine Form des Essays, die Balázs, Lukács und Popper in den Jahren 1906-1911 in verschiedenen Variationen erproben, ist die Form des Dialogs. Balázs’ Dialog über den Dialog macht diese Form selbst thematisch. Drei Szenen entfalten die Frage, ob es eine Begegnung zwischen den Seelen im Gespräch geben kann, die schöpferisch ist und dennoch beiden ihr Eigensein belässt, oder nur eine Verschmelzung, das gemeinsame Abtauchen in Bewusstlosigkeit. Ein Paar, Martha und Michael, Musikerin und Dichter, dienen als Versuchsanordnung. Balázs spielt mit den Gedanken seiner Figuren, die er assoziativ und widersprüchlich vorwärtstreibt. Es ist der Mann, der bei der Frau Versenkung sucht („ich fühle, als legte ich mich ein wenig zum Ausruhen ins Urall zurück“ 179 ), und wenn er sprechen will, dann von dem, was beide erleben, wenn sie nicht zusammen sind. Doch Martha gefällt das nicht. „Das ist gar kein richtiges Gespräch. Wir existieren nicht beide zusammen darin. Es ist kein Dialog.“ 180 Michael fürchtet den Dialog, die Berührung zwischen seinem und ihrem Bewusstsein, als etwas notwendig Tragisches, als Bestätigung der Einsamkeit, des „Jeder-für-sich-seins“. Martha wünscht sich mehr Leichtigkeit: „Dann wäre der Dialog, den ich meine, wie eine freigelassene, herumschweifende Assoziation, der Traum. [...] Wir wären ein Traum des Geistes der Menschheit.“ 181 Balázs versucht die Balance zwischen den 177 Balázs an Georg Lukács, Mai 1912, in: Lukács, Briefwechsel, S. 286f. 178 Balázs, Dialogus a dialogusról. Budapest: Athenaeum, 1913, S. 7f. [zitiert nach einer Übersetzung von Magdalena Ochsenfeld]. Das Büchlein, zwischen 1908 und 1910 geschrieben, sollte schon 1911 in der Bücherei des Nyugat erscheinen, kam aber erst zwei Jahre später bei Athenaeum heraus. Einen Teil der ersten Szene des Dialogs hat Balázs sehr viel später und stark verändert in Wien auf deutsch veröffentlicht, unter dem Titel „Ein Gespräch über das Gespräch“, in: Der Tag, 15.8.1925. 179 Ebd., S. 8. 180 Ebd., S. 6. 181 Ebd., S. 8. 108
Standpunkten zu halten, doch immer deutlicher wird: aus den Worten Michaels spricht er selbst. „Die Worte sind nicht voneinander unabhängige Mosaiksteine. Es gibt eine geheime, organische Verbindung zwischen ihnen allen. Ein lautes Wort weckt alle anderen schlafenden in den versteckten Tunneln der Seele.“ 182 Er schreibt über das Wandern der Seelen, ihre Einheit und ihre unendliche Vielzahl. „Vielleicht sind wir alle dieselbe Million Seelen, von einem anderen Zentrum aus gesehen? Jeweils andere Kaleidoskop-Bilder derselben Millionen Seelen? [...] Wir sind alle dieselbe Million Seelen, doch einen Teil davon objektivieren wir mit dem Dialog.“ 183 So gipfelt für ihn der Dialog nicht in schöpferischer Begegnung, sondern in der Einsamkeit des „tragische[n] Kampfes der Individuation“. 184 Und er beginnt zu monologisieren. Martha erschrickt vor ihm, spürt, dass er sich von ihr entfernt. Michael spricht über den Dialog mit den Dingen: „Wir teilen unsere tausend Seelen auch an die Dinge aus, um den Glauben an unsere Einheit zu bewahren. Und der Dialog mit den Dingen ist sicherer, als mit den Freunden. Er löst meine Grenzen nicht auf, sondern festigt sie. [...] Der Fetischismus ist die Religion der Einsamen. - Es ist erstaunlich, dass ein solcher Stein jenes Ich bewahrt, das ich ihm anvertraut habe, als er mein Fetisch geworden ist in einer schweren Stunde, als ich aus seinem Auge in mich blickte, aus ihm zu mir sprach.“ 185 Anders als noch in der „Todesästhetik“ hat Balázs nun das „Leben des anorganischen Lebens“ entdeckt, seine „Beseelung“ als Fetisch in den Blick genommen. Fetische, so schreibt er, seien wie die „Stadt meiner Kindheit“ 186 , ein Ort, an den man zurückkehren kann, um sich zu suchen, seine eigene Spur wieder aufzunehmen. Und zu Martha: „Jetzt warst du mein Tagebuch. Wer auf sich neugierig ist, der braucht Fetische und Freunde, sonst kommt ihm der ‘Doppelgänger’ [deutsch im Original] entgegen, wenn er sich auseinandernimmt. Der andere ist nötig, damit er mich abgrenzt, damit ich mich fühle.“ 187 Dieser „andere“, den man braucht um sich festzuhalten, wenn man in den eigenen Abgrund blickt, will Martha nicht sein. Und sie wechselt die „Sprache“, setzt sich ans Klavier und beginnt weinend ein Largo zu spielen. Balázs macht diesen „Sprachwechsel“ explizit, indem er die Noten, die Martha spielt, in den Dialog einsetzt. Nun hat Michael bekommen, was er wollte, das Angebot zur 182 Ebd., S. 10. 183 Ebd., S. 14. Ein Jahr später schreibt Balázs fast identisch an Lukács: „Das Mysterium meiner Dialoge hat sich wiederbelebt und eingeschaltet, nämlich daß wir vielleicht gar nicht viele Menschen sind. Vielleicht sind wir allesamt dieselbe Seele von verschiedenen Zentren aus betrachtet, in verschiedenen Stadien. Wir objektivieren einen Teil unserer Millionenseele, um den Glauben an unsere Einheit zu erhalten.“ (Balázs an Georg Lukács, 16.8.1911, in: Lukács, Briefwechsel, S. 245) 184 Balázs, Dialogus a dialogusról, S. 15. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Ebd., S. 16. 109
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Standpunkten zu halten, doch immer deutlicher wird: aus den Worten Michaels spricht er selbst. „Die<br />
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Vielzahl. „Vielleicht sind wir alle dieselbe Million Seelen, von einem anderen Zentrum aus gesehen?<br />
Jeweils andere Kaleidoskop-Bilder derselben Millionen Seelen? [...] Wir sind alle dieselbe Million<br />
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ich aus seinem Auge in mich blickte, aus ihm zu mir sprach.“ 185 Anders als noch in der<br />
„Todesästhetik“ hat Balázs nun das „Leben des anorganischen Lebens“ entdeckt, seine „Beseelung“<br />
als Fetisch in den Blick genommen. Fetische, so schreibt er, seien wie die „Stadt meiner Kindheit“ 186 ,<br />
ein Ort, an den man zurückkehren kann, um sich zu suchen, seine eigene Spur wieder aufzunehmen.<br />
Und zu Martha: „Jetzt warst du mein Tagebuch. Wer auf sich neugierig ist, der braucht Fetische und<br />
Freunde, sonst kommt ihm der ‘Doppelgänger’ [deutsch im Original] entgegen, wenn er sich<br />
auseinandernimmt. Der andere ist nötig, d<strong>am</strong>it er mich abgrenzt, d<strong>am</strong>it ich mich fühle.“ 187 Dieser<br />
„andere“, den man braucht um sich festzuhalten, wenn man in den eigenen Abgrund blickt, will<br />
Martha nicht sein. Und sie wechselt die „Sprache“, setzt sich ans Klavier und beginnt weinend ein<br />
Largo zu spielen. Balázs macht diesen „Sprachwechsel“ explizit, indem er die Noten, die Martha<br />
spielt, in den Dialog einsetzt. Nun hat Michael bekommen, was er wollte, das Angebot zur<br />
182 Ebd., S. 10.<br />
183 Ebd., S. 14. Ein Jahr später schreibt Balázs fast identisch an Lukács: „Das Mysterium meiner Dialoge hat sich<br />
wiederbelebt und eingeschaltet, nämlich daß wir vielleicht gar nicht viele Menschen sind. Vielleicht sind wir<br />
alles<strong>am</strong>t dieselbe Seele von verschiedenen Zentren aus betrachtet, in verschiedenen Stadien. Wir objektivieren<br />
einen Teil unserer Millionenseele, um den Glauben an unsere Einheit zu erhalten.“ (Balázs an Georg Lukács,<br />
16.8.1911, in: Lukács, Briefwechsel, S. 245)<br />
184 Balázs, Dialogus a dialogusról, S. 15.<br />
185 Ebd.<br />
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187 Ebd., S. 16.<br />
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