Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz
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Jahre illegale Arbeit für die Kommunistische Internationale und sieben Jahre stalinistische Haft überlebt. Sie starb 1975, in New York. 4.2 Ethik der Sehnsucht - Zweckbündnisse und Versuche Am 24. Mai 1911, als Lukács die Nachricht vom Tode Irmas erhielt, hatte er in sein Tagebuch notiert: „So arm ist keiner, Gott kann ihn noch ärmer machen. Das wußte ich nicht. Jetzt weiß ich: es ist aus. Alle Bande sind zerissen - denn sie vertrat alle Bande. Von nun an gibt es nurmehr Zweckgemeinschaften und Ziele; und Sachen; und Arbeit.“ 119 Zweckgemeinschaften und Ziele, Sachen und Arbeit. Dass der Mensch den Menschen niemals als bloßes Mittel betrachten dürfe, das sittliche Gesetz, das, wie Agnes Heller schreibt, in Lukács gelebt habe, er hatte es schon vor 1911 eigenwillig interpretiert. Was war dies für eine intellektuelle „Waffenbrüderschaft“ 120 , wie Balázs ihr Verhältnis, Lukács folgend, schon 1911 eher resigniert bezeichnete? Ihre Lebenssituation hatte alle Kennzeichen des Provisorischen. 1908 hatte Balázs eine ungeliebte Stelle als Realschullehrer zum Broterwerb angenommen und ein Junggesellenzimmer in Budapest, in der Lógodygasse hinter der Burg bezogen. Lukács hatte im September 1907 die evangelisch-lutherische Religion angenommen, ein Schritt aus rein praktischen Erwägungen. Und er hatte im September 1907, nach seiner Promotion als Jurist und sicherlich vor allem auf Druck seines Vaters, eine Stelle bei der Kommerzialbank in Budapest angetreten, von der er so bald als möglich wieder fortkommen wollte. Im Sommer 1909 gab er sie endgültig auf, nachdem sein Vater sich einverstanden erklärte, seine wissenschaftliche Laufbahn 119 Lukács, Tagebuch, S. 36. 120 Da spricht Balázs über seine Geldsorgen und über die Hilfe, die Lukács und sein Vater ihm zugesichert haben. „Das ist eine feine, schöne Sache, wenn man bedenkt, dass Gyuri mich eigentlich gar nicht ‘liebt’, dass unsere Freundschaft, wie er sagt, bloß eine Waffenbrüderschaft ist.“ (Balázs, Napló 1903-1914, S. 514. Eintrag im September 1911) Auch vier Jahre später schreibt er über ihre Beziehung, sie sei „nur eine intellektuelle Waffenbrüderschaft. Übrigens, sie war nie etwas anderes. Ich mag Gyuri wegen seiner ungeheuren Ehrlichkeit, weil er sensibel ist (denn er ist nicht gut), mir imponiert sein riesiger Intellekt, seine metaphysische Erlebnisfähigkeit, aber ... er begeistert mich nie. Sein Anblick entzündet, erschüttert mich nicht, wie mich früher Zoltán erschüttert hatte, oder Bartók es jetzt noch tut. Ich habe nicht das Gefühl: ‘Los, renn ihm nach!’“ (Balázs, Napló 1914-1922, S. 101. Eintrag vom 3.11.1915) 98
durch eine großzügige Apanage zu sichern. 121 Auch Béla Balázs wurde immer wieder von Lukács und seinem Vater finanziell unterstützt, wie seinen Briefen und seinem Tagebuch zu entnehmen ist. Kennengelernt hatten Balázs und Lukács sich 1904 eher flüchtig, als Lukács gemeinsam mit seinen damaligen Freunden Marcell Benedek und László Bánóczi, vor allem aber mit Sándor Hevesi, einem jungen Regisseur des Nationaltheaters, die „Thalia“ gründete, nach dem Vorbild des „Wiener Akademischen Vereins“ und auch der Berliner „Freien Bühne“. Die Thalia-Gesellschaft sollte, wie Sándor Hevesi dies bei der Gründungsversammlung am 20.4.1904 zum Ausdruck brachte, solche Dramen zur Aufführung bringen, „welche im edelsten Sinne des Wortes modern sind, auch wenn sie zweitausend Jahre alt sein sollten“. 122 1908 erschienen erste Gedichte von Balázs in der Anthologie Holnap (Morgen) 123 , an der sieben junge Poeten beteiligt waren. Georg Lukács hob Balázs’ Gedichte in seiner Rezension in Huszadik Század hervor: „In Béla Balázs, so spüre ich, verwandeln sich die fundamentalsten und intellektuellsten Probleme der heutigen Generation in Kunst, erheben sich zu Musik.“ 124 Balázs nahm dieses Lob allzu wörtlich und er glaubte, in Lukács einen kongenialen Deuter seiner Poesie gefunden zu haben. Die Buchausgabe seines ersten Dramas Doktor Szélpál Margit schenkte er Lukács mit einer pathetischen handschriftlichen Widmung: „Für Gyuri - Herbert und für Georg Lukács - Béla 121 Júlia Bendl, deren Biographie Lukács’ für diese Jahre die verlässlichste Quelle darstellt, hält es auch für durchaus wahrscheinlich, dass Lukács die damaligen Pläne seines Vaters, ihm eine politische Karriere als Abgeordneter der Tisza-Partei (also der herrschenden Liberalen) zu bahnen, bei weitem nicht so offensiv abgewehrt hatte, wie Lukács dies selbst später erinnerte. József Lukács, der sich seine Position, die soziale Stellung und das Vermögen seiner Familie hart erarbeitet hatte, war seinem hoch begabten Sohn in Liebe und Verehrung zugetan und Zeit seines Lebens bereit, alles für ihn zu tun. 1909 schrieb er seinem Sohn: „Du sagst es selbst, daß ich Dir großzügige Freiheit bei Deiner Entwicklung und der Wahl der Entwicklungswege gewähre. Ich tue das bewußt, weil ich Dir grenzenlos vertraue und Dich unendlich liebe - ich will alle Opfer bringen, um Dich groß, anerkannt, berühmt werden zu sehen, es wird mein größtes Glück sein, wenn es über mich heißt, ich sei der Vater von Georg Lukács.“ (József Lukács an Georg Lukács, 23.8.1909, in: Lukács, Briefwechsel, S. 79) Lukács hat in seinen Erinnerungen betont, dass sein Verhältnis zu seinem Vater weitaus besser gewesen sei als das zu seiner Mutter, der es vor allem auf vollendete Umgangsformen und gesellschaftliche Repräsentation ankam. Doch Lukács hat seinem Vater so manche Kränkung nicht erspart, seine Unterstützung aber immer wieder in Anspruch genommen. Dies betraf nicht nur sein finanzielles Auskommen, sondern auch die Verbindungen von József Lukács zu Professoren wie Bernát Alexander, Lukács Bemühungen um eine Habilitation bis ins Jahr 1918 und schließlich seine Flucht aus Budapest nach dem Ende der Rätediktatur im Sommer 1919. 122 Zit. nach Keller, Der junge Lukács, S. 45. Die erste Aufführung fand erst im November 1904 statt, gespielt wurden Einakter von Goethe, Courteline, Brandes und Mongré. Gespielt wurden in den Jahren zwischen 1905 und 1908, der letzten Saison der Thalia, Stücke von Strindberg und Hebbel, d’Annunzio und Shaw, Lessing und Ibsen, Hauptmann, Wedekind, Gorki und vielen anderen, ein internationales Repertoire, das am Ende 35 Werke umfasste, von denen die meisten für diesen Zweck erst übersetzt werden mussten, einige davon von Lukács selbst. Bei der ersten Aufführung stand auch Balázs in einer Nebenrolle auf der Bühne. Er vertraute seinem Tagebuch an, dass er keine Begabung zum Schauspieler habe und versuchte sich nie mehr in dieser Rolle. Vgl. zur Geschichte der Thalia-Gesellschaft und ihrer Programmatik insbesondere Keller, Der junge Lukács, S. 44-53. 123 Holnap [Morgen], Nagyvárad: „Holnap“ Irodalmi, 1908. 124 Zitiert nach Zsuffa, Béla Balázs, S. 32. 99
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Am 24. Mai 1911, als Lukács die Nachricht vom Tode Irmas erhielt, hatte er in sein Tagebuch<br />
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ist aus. Alle Bande sind zerissen - denn sie vertrat alle Bande. Von nun an gibt es nurmehr<br />
Zweckgemeinschaften und Ziele; und Sachen; und Arbeit.“ 119 Zweckgemeinschaften und Ziele,<br />
Sachen und Arbeit. Dass der Mensch den Menschen niemals als bloßes Mittel betrachten dürfe, das<br />
sittliche Gesetz, das, wie Agnes Heller schreibt, in Lukács gelebt habe, er hatte es schon vor 1911<br />
eigenwillig interpretiert.<br />
Was war dies für eine intellektuelle „Waffenbrüderschaft“ 120 , wie Balázs ihr Verhältnis, Lukács<br />
folgend, schon 1911 eher resigniert bezeichnete?<br />
Ihre Lebenssituation hatte alle Kennzeichen des Provisorischen. 1908 hatte Balázs eine ungeliebte<br />
Stelle als Realschullehrer zum Broterwerb angenommen und ein Junggesellenzimmer in Budapest, in<br />
der Lógodygasse hinter der Burg bezogen.<br />
Lukács hatte im September 1907 die evangelisch-lutherische Religion angenommen, ein Schritt aus<br />
rein praktischen Erwägungen. Und er hatte im September 1907, nach seiner Promotion als Jurist und<br />
sicherlich vor allem auf Druck seines Vaters, eine Stelle bei der Kommerzialbank in Budapest<br />
angetreten, von der er so bald als möglich wieder fortkommen wollte. Im Sommer 1909 gab er sie<br />
endgültig auf, nachdem sein Vater sich einverstanden erklärte, seine wissenschaftliche Laufbahn<br />
119 Lukács, Tagebuch, S. 36.<br />
120 Da spricht Balázs über seine Geldsorgen und über die Hilfe, die Lukács und sein Vater ihm zugesichert haben.<br />
„Das ist eine feine, schöne Sache, wenn man bedenkt, dass Gyuri mich eigentlich gar nicht ‘liebt’, dass unsere<br />
Freundschaft, wie er sagt, bloß eine Waffenbrüderschaft ist.“ (Balázs, Napló 1903-1914, S. 514. Eintrag im<br />
September 1911) Auch vier Jahre später schreibt er über ihre Beziehung, sie sei „nur eine intellektuelle<br />
Waffenbrüderschaft. Übrigens, sie war nie etwas anderes. Ich mag Gyuri wegen seiner ungeheuren Ehrlichkeit,<br />
weil er sensibel ist (denn er ist nicht gut), mir imponiert sein riesiger Intellekt, seine metaphysische<br />
Erlebnisfähigkeit, aber ... er begeistert mich nie. Sein Anblick entzündet, erschüttert mich nicht, wie mich früher<br />
Zoltán erschüttert hatte, oder Bartók es jetzt noch tut. Ich habe nicht das Gefühl: ‘Los, renn ihm nach!’“ (Balázs,<br />
Napló 1914-1922, S. 101. Eintrag vom 3.11.1915)<br />
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