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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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den sie <strong>am</strong> Tage ihres Selbstmordes bei sich trug, hatte Irma Seidler jedenfalls nicht mehr<br />

abgewartet. Der 18. Mai 1911 war ein Donnerstag.<br />

Agnes Heller gibt Irma Seidlers Tod eine falsch, eine hohl klingende Weihe: „Und im Todessprung<br />

sind alle ihre Handlungen zum Symbol geworden, und jede Zufälligkeit ihres Lebens hat die Form der<br />

Notwendigkeit angenommen.“ Doch es ist die „Notwendigkeit“ derer, die diesen Tod deuteten.<br />

„Und das Wunder geschah: G. hat nie wieder die Worte niedergeschrieben: ‘das Weib ist nur<br />

Weib’.“ 100<br />

Balázs, der Irma Seidler trösten und sich selbst zugleich einen Genuss verschaffen wollte, hat nicht<br />

nur sie und ihre Gefühle falsch verstanden. Auch darüber, welche Rolle er in Lukács’ Welt spielen<br />

durfte, welchen Charakter ihr Bündnis, ihre „Waffenbrüderschaft“ besitzen könnte, hatte er sich<br />

realitätsferne Hoffnungen gemacht. Im Mai 1910 schrieb er an Lukács:<br />

„Immer stärker empfinde ich, daß wir auf ein und dasselbe Schiff geraten sind, daß alle meine<br />

Lebensäußerungen irgendwie auch Dir gelten. [...] Es geht mir etwa wie den Verliebten, die ihr<br />

ganzes Leben mit Haut und Haar sowieso einander gewidmet haben und daher zu gesonderten<br />

Liebeserklärungen nicht fähig sind [...]. Seitdem ich das Gefühl habe, daß wir im Prinzip gleich sind,<br />

habe ich die theoretischen Ausführungen irgendwie Dir überlassen und philosophiere immer weniger<br />

[...], aber wie ich seit neuestem bemerke, kann ich es auch nicht mehr. Auch das ist ein Beweis<br />

dessen, daß meine Gedanken nicht den Ideen zuliebe da waren. Ich kämpfte auch auf diesem Feld,<br />

weil es sonst niemanden gab; nun überlasse ich es Dir.“ 101<br />

Studiert man Lukács’ Briefwechsel dieser Jahre, dann ist es offenkundig Leo Popper, mit dem er<br />

offen über das Persönlichste zu sprechen vermag. Im Tagebuch freilich spricht er von der Suche nach<br />

einem Menschen. „Irgendein ‘Mensch’ müßte kommen“ 102 , und: „[I]ch brauchte einen Menschen,<br />

mit dem man reden könnte! Stottern! [...] Es gibt einen, der Surrogat [für Irma] sein könnte.<br />

100 Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 92. Joseph Zsuffa nimmt dies auch für Balázs in<br />

Anspruch: „After Irma Seidler’s suicide, Lukács never again wrote the words: ‘A woman is only a woman.’<br />

Neither did Balázs.“ (Zsuffa, Béla Balázs, S. 414) Das Weiningersche Thema, „Geschlecht und Charakter“, bleibt<br />

freilich wie sich zeigen wird, in Variationen nach wie vor virulent. „Die Frau ist dumm, aber sie besitzt ein tief<br />

verwurzelten Instinkt im Gegensatz zum wurzellosen Instinkt des Mannes“, schreibt Balázs <strong>am</strong> 28.12.1915 in sein<br />

Tagebuch. (Balázs, Napló 1914-1922, S. 112)<br />

101 Balázs an Georg Lukács, Ende Mai 1910, in: Lukács, Briefwechsel, S. 122.<br />

102 Lukács, Tagebuch, S. 18. Eintrag vom 28.5.1910.<br />

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