Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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Seelen. Agnes Heller hat dies als „existentielle Analyse“ 41 gekennzeichnet, als ein Gegenmodell zur Psychologie. Auf deren Weg gelangten wir „nie zum wahrhaft Wesentlichen, zum Unbedingten. Georg Lukács aber wollte mittels der Analyse zum unbedingten, zum Letztlichen gelangen. Georg Lukács verachtete die Psychoanalyse als erklärendes Prinzip: die ‘Seele’, so wie sie in ihrer Wesentlichkeit ist, hat keine Vorgeschichte.“ 42 So bleibt für Lukács die Seele, ohne „Vorgeschichte“, an das Schicksal gekettet, schieres Fatum. Seine Antwort auf Irmas Brief muss ausweichend, noch ausweichender gewesen sein als seine letzten Briefe. Schließlich schreibt sie ihm einen Abschiedsbrief, Ausdruck „herausfordernde[r] Verzweiflung [...] Warten auf Wunder“. 43 Sie tritt stolz und nackt zugleich vor ihn hin: „Gyuri, wir waren viel zusammen. Zusammen im wahren Sinn des Wortes [...]. Doch waren wir nicht zusammen mit allen Teilen unseres Wesens. Wir waren nicht zusammen dort, wo sich mein entsetzlich menschliches, aus Blut und pulsierendem Stoff bestehendes, in handgreiflichen Dingen lebendiges Leben abspielt. [...] Und ich habe mich in diesen Briefen - ich muß aufrichtig sein - um den Preis unbeschreibbarer Opfer im Gefühl vollkommen an Sie angeschmiegt, angepaßt - ich habe Ihrer Verfügung gemäß die seelischen Formen des Einander-Verstehens auf mich genommen.“ 44 Doch geistiger Genuss ersetze keine seelische Funktion, und „riesengroß sind in mir die primitiv menschlichen, einfachen, großen Sehnsüchte“. 45 Sie versucht, ihren Stolz zu bewahren und dennoch einen Weg für ihn offen zu lassen: „Sie sagten mir nie [...] ob Sie daran denken, mein Leben wirklich mit ihrem zu verbinden. Und obwohl Sie nie sagten, daß Sie dies wollten, bitte ich heute meine Freiheit von Ihnen zurück - die Sie mir vielleicht nie genommen haben. Die zu nehmen Sie stets zögerten und fürchteten. Jetzt bitte ich sie zurück.“ 46 Ohne Antwort von Lukács schreibt sie, noch verzweifelter, noch herausfordernder einige Tage später ein letztes Mal, bittet um eine letzte Begegnung, einen Abschied „nicht mit Bitterkeit [...], aber mit innigen süßen Gefühlen, auf milde, sanfte Weise“. 47 Lukács spielt mit Selbstmordgedanken, auf dem Papier wenigstens, dem er all seinen Hochmut, seine Selbstgerechtigkeit, seine Selbststilisierung als um Erlösung Betrogener anvertraut. „Rettung, 40 Irma Seidler an Georg Lukács, 7.9.1908, in: Lukács, Briefwechsel, S. 42f. 41 Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 79. 42 Ebd., S. 78. 43 Ebd., S. 72. 44 Irma Seidler an Georg Lukács, 25.10.1908, in: Lukács, Briefwechsel, S. 44. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 45. 84

Erlösung, Gnade - das sind die Kategorien, mit denen Lukács sein Verhältnis zu Irma Seidler beschreibt - sei es im Dialog der Mißverständnisse, sei es in Monologen. [...] Wenn Irma ihn wirklich verstanden hätte, wäre ihm Gnade gewährt worden. [...] Aber Irma hat ihn nicht retten können - und nach dem furchtbaren Ende vertauschen sich dem Anschein nach die Rollen. Er hätte Irma retten sollen, er hätte Irma erlösen sollen, er konnte sie aber nicht retten, nicht erlösen, weil ihm die ‘Gnade der Güte’ nicht gewährt war [...]. Die Rollen vertauschen sich, aber nur dem Anschein nach; sei er der Gerettete oder der Retter, der Erlöste oder der Erlöser, gleichviel: die Gnade muß ihm gewährt werden.“ 48 Lukács hat seinen Abschiedsbrief (vom Leben, von der Welt) nicht abgeschickt, in dem er Irmas Liebe trotzig die Worte entgegensetzt: „Verzeihen Sie, daß ich zwar aufgehört habe, in Ihrem Leben etwas zu bedeuten - sofern ich je etwas bedeutet habe -, verzeihen Sie, daß Sie trotzdem der einzige Inhalt meines Lebens sind. [...] Jetzt muß ich schreiben, jetzt, da Sie diese Zeilen mit meiner Todesnachricht zugleich erhalten werden.“ 49 Lukács hat weder diesen Brief abgeschickt noch Hand an sich gelegt. Und er hat Irma auch das Gespräch verweigert, um das sie ihn bat. „Warum hat Georg Lukács eine solche Irma Seidler gedichtet, die nie existiert hat, eine Irma, die ihn nicht geliebt hat?“, so fragt Agnes Heller und gibt darauf gleich zwei Antworten, die eher neue Fragen sind: Weil Liebe für Lukács und Irma Seidler nicht dasselbe bedeuteten weil „unmittelbare Begegnung der Seelen im Zustand der ‘Gnade’“ 50 in der Welt, wie sie ist, nur ein Moment außerhalb der Zeit sein könne, weil das Sich-Einrichten im empirischen Leben, in den Wünschen und menschlichen Bedürfnissen allenfalls eine Insel des Authentischen inmitten der Entfremdung, eine falsche Erlösung schaffen könne? Oder aber: weil Lukács’ Hochmut es nicht ertrug, der „Gegenstand“ von Irmas Liebe zu sein, weil „der Liebende höher [steht] als der Geliebte“ 51 , weil Lukács sich durch eben diesen Hochmut selbst ins Unrecht setzen musste? Weil er nur im „Unrecht“ das entfremdete Ganze überblicken und der Gnade teilhaftig werden könnte? Doch damit war Lukács noch nicht am Ende dieses Weges angekommen. Etwas blieb offen, und darüber spricht auch Agnes Heller nicht. Lukács, in seinem „Hochmut“, dem Hochmut dessen, der 47 Irma Seidler an Georg Lukács, 2.11.1908, zit. nach Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 72. 48 Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 66. 49 Lukács, Briefwechsel, S. 46. 50 Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 68. 51 Ebd., S. 86. 85

Erlösung, Gnade - das sind die Kategorien, mit denen Lukács sein Verhältnis zu Irma Seidler<br />

beschreibt - sei es im Dialog der Mißverständnisse, sei es in Monologen. [...] Wenn Irma ihn<br />

wirklich verstanden hätte, wäre ihm Gnade gewährt worden. [...] Aber Irma hat ihn nicht retten<br />

können - und nach dem furchtbaren Ende vertauschen sich dem Anschein nach die Rollen. Er hätte<br />

Irma retten sollen, er hätte Irma erlösen sollen, er konnte sie aber nicht retten, nicht erlösen, weil ihm<br />

die ‘Gnade der Güte’ nicht gewährt war [...]. Die Rollen vertauschen sich, aber nur dem Anschein<br />

nach; sei er der Gerettete oder der Retter, der Erlöste oder der Erlöser, gleichviel: die Gnade muß<br />

ihm gewährt werden.“ 48<br />

Lukács hat seinen Abschiedsbrief (vom Leben, von der Welt) nicht abgeschickt, in dem er Irmas<br />

Liebe trotzig die Worte entgegensetzt: „Verzeihen Sie, daß ich zwar aufgehört habe, in Ihrem Leben<br />

etwas zu bedeuten - sofern ich je etwas bedeutet habe -, verzeihen Sie, daß Sie trotzdem der einzige<br />

Inhalt meines Lebens sind. [...] Jetzt muß ich schreiben, jetzt, da Sie diese Zeilen mit meiner<br />

Todesnachricht zugleich erhalten werden.“ 49 Lukács hat weder diesen Brief abgeschickt noch Hand<br />

an sich gelegt. Und er hat Irma auch das Gespräch verweigert, um das sie ihn bat. „Warum hat<br />

Georg Lukács eine solche Irma Seidler gedichtet, die nie existiert hat, eine Irma, die ihn nicht geliebt<br />

hat?“, so fragt Agnes Heller und gibt darauf gleich zwei Antworten, die eher neue Fragen sind: Weil<br />

Liebe für Lukács und Irma Seidler nicht dasselbe bedeuteten weil „unmittelbare Begegnung der<br />

Seelen im Zustand der ‘Gnade’“ 50 in der Welt, wie sie ist, nur ein Moment außerhalb der Zeit sein<br />

könne, weil das Sich-Einrichten im empirischen Leben, in den Wünschen und menschlichen<br />

Bedürfnissen allenfalls eine Insel des Authentischen inmitten der Entfremdung, eine falsche Erlösung<br />

schaffen könne?<br />

Oder aber: weil Lukács’ Hochmut es nicht ertrug, der „Gegenstand“ von Irmas Liebe zu sein, weil<br />

„der Liebende höher [steht] als der Geliebte“ 51 , weil Lukács sich durch eben diesen Hochmut selbst<br />

ins Unrecht setzen musste? Weil er nur im „Unrecht“ das entfremdete Ganze überblicken und der<br />

Gnade teilhaftig werden könnte?<br />

Doch d<strong>am</strong>it war Lukács noch nicht <strong>am</strong> Ende dieses Weges angekommen. Etwas blieb offen, und<br />

darüber spricht auch Agnes Heller nicht. Lukács, in seinem „Hochmut“, dem Hochmut dessen, der<br />

47 Irma Seidler an Georg Lukács, 2.11.1908, zit. nach Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 72.<br />

48<br />

Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 66.<br />

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Lukács, Briefwechsel, S. 46.<br />

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Heller, „Das Zerschellen des Lebens an der Form“, S. 68.<br />

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