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Frankfurt am Main - KOPS - Universität Konstanz

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es durch die Überantwortung all dieser Paradoxien an die höchste Instanz der Weltgeschichte. Deren<br />

Entscheidung sieht Lukács noch nicht voraus. Eines immerhin glaubt er jetzt schon zu wissen: „Das<br />

System des Sozialismus und seine Weltanschauung, der Marxismus, bilden eine Synthese. Die<br />

erbarmungsloseste und strengste Synthese - vielleicht seit dem mittelalterlichen Katholizismus.“ 38 Und<br />

die Erfüllung des in ihr sich ankündigenden Antiindividualismus sei möglich nur in der „Kunst der<br />

großen Ordnung, der Monumentalität“. 39<br />

Lukács’ Briefe an Irma Seidler sind, bis auf wenige Briefkonzepte, nicht erhalten, doch die<br />

Schreiben, die sie in der Zeit von Anfang Juli bis zum 25. Oktober 1908 an Lukács richtet, sprechen<br />

von dem immer verzweifelter werdenden Versuch, Lukács Vertrauen zu geben, Vertrauen in die<br />

Möglichkeit zus<strong>am</strong>men und zugleich bei-sich sein zu können. Sie bemüht sich, Lukács’ „Maß<br />

auszufüllen“, und das heißt auch: alles bis zu seinem Ende in Worten zu erklären, und sie bittet ihn<br />

zugleich, zu kommen, zus<strong>am</strong>men zu sein. Sie fürchtet sich vor dem Schreiben, das Theorie in die<br />

Gefühle, in alle Dinge wie von selbst hineinbringe. „Die Analyse löst auf - und Dinge, die einmal zu<br />

Elementen zerlegt worden sind, lassen sich nicht immer wieder zus<strong>am</strong>menschweißen. Ich hatte dieses<br />

Gefühl - und ich fürchtete, daß man etwas zerpflückt, bestätigt noch nicht, daß man diese Sache<br />

tatsächlich zerpflücken mußte, lediglich, daß das Experiment möglich war. [...] Adieu, liebster Gyuri,<br />

ich finde keine neue Form für die gleiche Sache und schreibe halt wieder, daß ich Sie sehr liebe.“ 40<br />

Lukács’ Analyse ließ keinen Raum für eine Begegnung von Menschen, für eine Bewegung der<br />

deutsche Übersetzung lediglich des ersten Kapitels erschien 1914 unter dem Titel „Zur Soziologie des modernen<br />

Dr<strong>am</strong>as“, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Jg. 37 (1914), S. 303-345; 662-706 (hier zitiert aus<br />

Georg Lukács, Schriften zur Literatursoziologie. <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>/Berlin/Wien: Ullstein, 1985).<br />

Lukács erprobte in dieser Arbeit erstmals soziologische Kategorien, um dem Individualismus der bürgerlichen<br />

Gesellschaft als Form der Verdinglichung eine Utopie der Gemeinschaft entgegen zu stellen, die Entfremdung als<br />

überwindbare historische Totalität zu kennzeichnen. Unter den Bedingungen der „Anarchie der Produktion“, ziele<br />

alles darauf ab, „die Arbeit von den stets irrationalen und derart nur qualitativ bestimmbaren Fähigkeiten des<br />

Arbeiters unabhängig zu machen und nach objektiven, außerhalb seiner Persönlichkeit liegenden und mit dieser<br />

in keinerlei Zus<strong>am</strong>menhang stehenden Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten anzuordnen“ (S. 286f). (Vgl. dazu<br />

insbesondere Jörg K<strong>am</strong>mler, „Ästhetizistische Lebensphilosophie“, in: text + kritik. Zeitschrift für Literatur.<br />

Georg Lukács. H. 39/40 (1973), München: edition text + kritik. Richard Boorberg Verlag, 1973, S. 8-23.)<br />

Lukács führte so manchen hier begonnenen Gedanken erst nach 1919 weiter. 1910 weist er, in einem Brief an<br />

Mihály Babits, die Unterstellung noch weit von sich „daß ich ein Anhänger von Marx sei!“ (Georg Lukács an<br />

Mihály Babits, 2.11.1910, in: Lukács, Briefwechsel, S. 165)<br />

Auch Ernst Keller und Ferenc Fehér betonen, dass Lukács bei seinem Versuch, die Wechselwirkung zwischen<br />

Gesellschaft und Individuum, Gemeinschaft und Kunstwerk zu erklären, vor allem auf Ferdinand Tönnies’<br />

Gemeinschaft und Gesellschaft und Georg Simmels Schriften, wie die Philosophie des Geldes zurückgegriffen<br />

habe. (Siehe Keller, Der junge Lukács, Antibürger und wesentliches Leben, S. 61-65; sowie Ferenc Fehér, „Die<br />

Geschichtsphilosophie des Dr<strong>am</strong>as, die Metaphysik der Tragödie und die Utopie des untragischen Dr<strong>am</strong>as.<br />

Scheidewege der Dr<strong>am</strong>entheorie des jungen Lukács“, in: Heller u.a., Die Seele und das Leben, S. 7-53.)<br />

38 Lukács, A modern dráma története, zitiert nach Fehér, „Die Geschichtsphilosophie des Dr<strong>am</strong>as“, S. 27.<br />

39 Ebd.<br />

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