brennpunkt 4-2012 .indd - Edition dibue
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Joel Sternfeld<br />
»Retrospektive«<br />
Eine epische Reise quer durch die USA<br />
jenseits eingetreter Tourismuspfade und<br />
bekannter Sehenswürdigkeiten. Die<br />
Landschaften, Straßenzüge, Grünanalagen<br />
und Häuser mitsamt ihren Bewohnern<br />
erscheinen unspektakulär, harmlos<br />
und alltäglich. Diese Motive haben es<br />
jedoch in sich! Unter der fotografischen<br />
Oberfläche verbergen sich gescheiterte<br />
Utopien, vergessene Schicksale und blutige<br />
Tatorte. Diese deckt Joel Sternfeld<br />
nüchtern und präzise auf und rückt so<br />
die menschliche Begrenzung der Wahrnehmung,<br />
die Leichtigkeit des Vergessens<br />
sowie die tägliche Gewalt in den<br />
Fokus. Gerade im stillen Verzicht auf<br />
jegliche Sensationsgier liegt die explosive<br />
Sprengkraft seiner Bilder und offenbart<br />
einen skeptischen, zuweilen dennoch<br />
liebevollen Blick auf eine erschütterte<br />
Nation Ende des 20. Jahrhunderts.<br />
Seinen als abgeschlossen konzipierten<br />
Werkgruppen gehen intensive Recherchen<br />
voran und werden oft von deskriptiven<br />
Texten begleitet. Erst durch diese<br />
kann der Betrachter etwa den Balkon,<br />
auf dem Martin Luther King erschossen<br />
wurde, die Farm einer radikal religösen<br />
Sekte oder den Schauplatz einer<br />
Vergewaltigung mitten im Central Park<br />
in den richtigen Kontext setzen. Hierdurch<br />
erhalten Joel Sternfelds tiefgehende<br />
Erkundungen der USA ihre<br />
eigentliche Brisanz. Gleichzeitig rückt<br />
dadurch das Problem der Objektivität<br />
und die Interpretierbarkeit von Fotografie<br />
und Bildern allgemein in den Vordergrund.<br />
»Die Erfahrung hat mich immer<br />
wieder von neuem gelehrt, dass man<br />
nie wissen kann, was sich unter einer<br />
Oberfläche oder hinter einer Fassade<br />
verbirgt. Bei der Einschätzung eines<br />
Ortes, dem Betrachten von Fotografien<br />
einer Landschaft ist unser Verständnis<br />
zwangsläufig Fehldeutungen unterworfen.«,<br />
so Joel Sternfeld. Seine Bilder sind<br />
nicht nur ernsthaft, illustrativ und kritisch,<br />
sondern vor allem auch ironisch<br />
und humorvoll - jedoch auf eine Freudsche,<br />
nervöse Art, die eine innere, unangenehme<br />
Wahrheit beinhaltet.<br />
© Joel Sternfeld, »McLean« (O.i.F.)<br />
Mit seinen Fotografien von Menschen<br />
innerhalb ihres Lebensumfeldes bezieht<br />
sich Joel Sternfeld einerseits auf die soziologischen<br />
Studien von August Sander<br />
und andererseits auf die fotografische<br />
Vermessung der USA von Walker Evans<br />
und Robert Frank. Gleichzeitig sind bei<br />
ihm eine eindeutige Zuordnung und<br />
eine einfache Typologisierung der Porträtierten<br />
nicht mehr möglich.Denn in<br />
seinen Werken erscheinen Punks als<br />
bieder, Feuerwehrmänner als fahrlässig<br />
und Anwälte als nicht vertrauenerweckend<br />
- sogar die idyllische Landschaft<br />
wirkt brüchig.<br />
C/O Berlin präsentiert in Kooperation<br />
mit dem Folkwang Museum, Essen, erstmals<br />
in Deutschland eine große Retrospektive<br />
von Joel Sternfeld, die seine<br />
Serien »American Prospects«, «Sweeth<br />
Earth«, »Stranger Passing« und »On this<br />
Site« umfasst.<br />
Joel Sternfeld, 1944 in New York geboren,<br />
studierte am Dartmouth College<br />
und zählt neben William Eggleston und<br />
Stephen Shore zu den Fotografen, die<br />
Ende der 1970er die Farbe für die Kunstfotografie<br />
wiederentdeckten und damit<br />
den Begriff »New Color« prägten. Seine<br />
Arbeiten wurden unter anderem im Art<br />
Institute of Chicago, dem San Francisco<br />
Museum of Modern Art, dem Museum<br />
of Modern Art, New York, der Tate<br />
© Joel Sternfeld, »Washinton DC«, 1974<br />
<strong>brennpunkt</strong> 4/<strong>2012</strong><br />
Galerien<br />
Modern, London, dem S.M.A.K., Gent,<br />
und dem Fotomuseum Winterthur ausgestellt.<br />
1978 und 1982 erhielt er für die<br />
Realisierung seiner Werkgruppe »American<br />
Prospects« zwei Guggenheim-Stipendien,<br />
1990/91 den Prix-de-Rome.<br />
Joel Sternfeld war Gewinner des international<br />
anerkannten Deutsche Börse<br />
Photography Prize 2004.<br />
3. November <strong>2012</strong> bis 13. Januar 2013<br />
C/O Berlin<br />
International Forum For Visual<br />
Dialogues<br />
Oranienburger Straße 35/36<br />
10117 Berlin-Mitte<br />
täglich 11 – 20 Uhr<br />
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