brennpunkt 4-2012 .indd - Edition dibue
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Galerien<br />
Jörg Sasse<br />
»Common Places«<br />
»Was mich interessiert, ist der Punkt, an<br />
dem man meint, etwas erkannt zu haben,<br />
das sich im nächsten Moment<br />
jedoch wieder entzieht.« Jörg Sasse<br />
Trophäen, Heizkörper, Treppenabsätze,<br />
Polstersofas, Lamellenvorhänge,<br />
Topflappen, Plastiktiere – diese Motive<br />
erscheinen auf den ersten Blick vollkommen<br />
zusammenhangslos und wenig<br />
spektakulär. Was wird hier eigentlich<br />
genau gezeigt? Und wozu? Was hat<br />
es mit diesen Interieurszenerien und<br />
schlichten Objekten in einer rätselhaft<br />
menschenleeren Atmosphäre auf sich?<br />
Durch ungewöhnliche Perspektiven und<br />
Anschnitte erschließen sich die abgebildeten<br />
Dinge des täglichen Lebens oft<br />
nicht auf den ersten Blick. Mit seinen<br />
hermetischen Kombinationen fordern<br />
die Fotografien von Jörg Sasse zu einem<br />
genauen Betrachten auf. Erst das tastende<br />
Schauen und entschleunigte Beobachten<br />
legen Analogien und Korrespondenzen<br />
frei, lassen Bedeutungs- und Bildebenen<br />
erkennen und führen allmählich zu<br />
Erkenntnissen. Dabei entziehen sich<br />
diese gleichzeitig einer sprachlichen<br />
Ein- und Zuordnung. Indem Jörg Sasse<br />
die Oberflächen der Dinge durchdringt<br />
und neu arrangiert, zeigt er spielerisch<br />
und mit viel Humor, welche subtile<br />
Wirkungsmacht das Visuelle besitzt.<br />
Die Ausstellung bei C/O Berlin zeigt<br />
zwei Hauptwerke von Jörg Sasse – 110<br />
in zehn Blöcken zusammengestellte<br />
Stillleben sowie den Speicher II mit insgesamt<br />
512 Bildern.<br />
Die Bilder der Blöcke geben eine ästhetisch<br />
perfekte, formal reduzierte Realität<br />
wieder, die aber leichte Brüche aufweist.<br />
Bei genauerem Hinsehen entstehen<br />
Irritationen, die auf Widersprüchen<br />
zwischen Alltagserfahrung und -wahrnehmung<br />
basieren. Die Objekte und<br />
Situationen wirken in den Abbildungen<br />
fremd und gleichzeitig vertraut. Die kompositorische<br />
Stringenz und Abstraktion<br />
sowie flächig-hypnotische Farbigkeit<br />
verstärken diesen Effekt zusätzlich. So<br />
verhandeln die Abweichungen von<br />
der Realität Aspekte von Malerei, loten<br />
38 <strong>brennpunkt</strong> 4/<strong>2012</strong><br />
© Jörg Sasse, Aix-en-Provence, 2011 (O.i.F.) © Jörg Sasse, Kiel, <strong>2012</strong> (O.i.F.)<br />
Farben aus und setzen Formen neu<br />
zusammen. Die Ausschnitte sind teils so<br />
gewählt, dass sie entweder verschleiern<br />
oder fokussieren. Jörg Sasse hintergeht<br />
bewusst Inhalt, Kontext und Vorwissen<br />
und entlässt den Betrachter in einem<br />
offenen, nicht-zielorientierten Prozess<br />
des »sehenden« Sehens.<br />
Der Speicher II ist eine drei-dimensionale<br />
Skulptur, zugleich Archiv und<br />
Datenbank. Er beinhaltet visuell überarbeitete<br />
Amateurfotografien aus dem<br />
Ruhrgebiet von den 1950ern bis 2010.<br />
Diese Bilder wurden nach ihrer sprachlichinhaltlichen<br />
Relevanz in 56 Kategorien<br />
zusammengefasst, wobei jedes einzelne<br />
Foto wenigstens mit drei Schlagworten<br />
versehen wurde – von abstrakt und statisch/organisch,<br />
über Freizeit, Wasser bis<br />
hin zu Industrie und Handel.<br />
Jeder Besucher kann sich nach Auswahl<br />
einer Kategorie eine eigene Hängung realisieren<br />
lassen. Jörg Sasse macht dadurch<br />
mit dem Speicher den Besucher selbst<br />
zum Akteur im Kunstbetrieb und den<br />
Prozess des Kuratierens transparent.<br />
Und schließlich stellt der Speicher die<br />
Frage nach dem Umgang mit dem Archiv<br />
– das Sichtbare ist immer nur ein Teil des<br />
Vorhandenen, dem Zufall und dem subjektiven<br />
Geschmack unterworfen.<br />
Jörg Sasse, geboren 1962 in Bad Salzuflen,<br />
studierte von 1982 bis 1987 an der<br />
Kunstakademie Düsseldorf, wo er 1987<br />
Meisterschüler bei Bernd Becher war<br />
und dort auch von 1988 bis 1989 einen<br />
Lehrauftrag hatte. Im Anschluss realisierte<br />
er diverse Projekte und Vorträge an<br />
verschiedenen Hochschulen. Von 2003<br />
bis 2007 war Jörg Sasse Professor für<br />
Dokumentarfotografie an der Universität<br />
Duisburg-Essen / Folkwang Hochschule.<br />
2005 wurde er für den Deutsche Börse<br />
Photography Prize nominiert. Von 2010<br />
bis 2011 hatte er eine künstlerische<br />
Gastprofessur am Institut für Bildende<br />
Kunst und Kunstwissenschaft an der<br />
Universität Hildesheim inne. Seine<br />
Werke wurden international publiziert<br />
und ausgestellt – u.a. im Musée<br />
de Grenoble, in der Kunsthalle Zürich,<br />
im ZMK Karlsruhe, im Musée d’Art<br />
Moderne, in der Kunsthalle Hamburg und<br />
Photographers’ Gallery London. Seine<br />
Bilder befinden sich im Besitz zahlreicher<br />
Sammlungen wie die des Solomon<br />
R. Guggenheim Museums in New York,<br />
des Städel Museums in Frankfurt und der<br />
Sammlung der Deutschen Börse Group.<br />
Jörg Sasse lebt und arbeitet in Berlin.<br />
bis 28. Oktober <strong>2012</strong><br />
C/O Berlin<br />
International Forum For Visual<br />
Dialogues<br />
Oranienburger Straße 35/36<br />
10117 Berlin-Mitte<br />
täglich 11 – 20 Uhr