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05/2017

Fritz + Fränzi

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Erziehung & Schule<br />

Es ist die Empathie, die uns<br />

überhaupt zu sozialen Wesen<br />

macht.<br />

Vor Kurzem hörte ich<br />

meine Tochter Fanny<br />

in ihrem Zimmer<br />

leise weinen. Schon<br />

beim Abendessen<br />

war sie auffällig ruhig gewesen, hatte<br />

aber auf meine Fragen nur brüsk<br />

«Es ist nichts!» geantwortet. Als ich<br />

den Kopf durch die geöffnete Tür<br />

hineinsteckte, sah ich meine Neunjährige<br />

auf ihrem Bett sitzen. Ihre<br />

Augen waren leicht gerötet, die Nase<br />

zog sie immer wieder lautstark hoch.<br />

«Ich schäme mich so», schluchzte<br />

sie. «Ich habe heute ganz laut über<br />

Nina gelacht.» Dann erzählte sie,<br />

dass sie in der Nachmittagsbetreuung<br />

über Kästen gesprungen seien.<br />

Nina habe es als Einzige nicht ge ­<br />

schafft. «Sie ist ja nicht so sportlich,<br />

weil sie so dick ist», sagte Fanny. Es<br />

habe wahnsinnig komisch ausgesehen,<br />

wie Nina einfach auf dem Kasten<br />

liegen geblieben sei. Einer habe<br />

gerufen: «Wie ein Sack!» Ein paar<br />

Kinder hätten gekichert, Fanny<br />

auch. «Ich habe erst aufgehört, als<br />

ich gesehen habe, dass Nina beinahe<br />

geweint hätte», flüsterte meine<br />

Tochter und warf sich in meine<br />

Arme.<br />

Mir stiegen ebenfalls Tränen in<br />

die Augen. Ich litt mit meiner Tochter.<br />

Ich schämte mich für sie. Und<br />

ich konnte auch den Kummer des<br />

anderen Mädchens fühlen. «Was ist,<br />

Mama?», wollte meine Tochter wissen,<br />

die natürlich merkte, wie mitgenommen<br />

ich war. «Bist du mir<br />

böse?» War ich das? «Ich finde nicht<br />

gut, dass du gelacht hast», sagte ich.<br />

«Aber es ist gut, dass du jetzt verstehst,<br />

wie es deiner Freundin ging.»<br />

Und dann erzählte ich meiner<br />

Tochter von einer Spezialeigenschaft<br />

unseres Gehirns, die mich seit je fasziniert.<br />

Von dieser Fähigkeit, empathisch<br />

mitzuerleben, also tatsächlich<br />

zu empfinden, was einem anderen<br />

Menschen gerade widerfährt. «Lä ­<br />

gen wir beide jetzt in einer Maschine,<br />

mit der man in unseren Kopf<br />

sehen kann, dann würden bei uns<br />

im Gehirn die gleichen Punkte<br />

leuchten», sagte ich. «Läge ich mit<br />

Nina jetzt in so einer Gehirndurchleuchtungsmaschine,<br />

wäre das auch<br />

so», schlussfolgerte Fanny. Weil sie<br />

den Kummer ihrer Freundin auch<br />

fühlen würde – so als wäre es ihr<br />

eigener. «Krass!», fasste meine Tochter<br />

zusammen. Und so sehr mir dieses<br />

Wort manchmal missfällt, so<br />

passend fand ich es diesmal.<br />

Empathische Zivilisation nötig<br />

Empathie stammt ab vom griechischen<br />

Wort «empatheia»: «em»<br />

bedeutet «hinein», «pathos» heisst<br />

«Leiden». Die Zusammensetzung<br />

beschreibt das Hineinfühlen in die<br />

Gemütszustände anderer. Früher<br />

dachte man, dass Menschen nur aufgrund<br />

ihrer Lebenserfahrung rational<br />

erfassen können, wie ihr Gegenüber<br />

sich fühlt. Dann entdeckten<br />

Neurologen Mitte der Neunzigerjahre,<br />

dass bestimmte Zellen im Gehirn,<br />

die sogenannten «Spiegelzellen», das<br />

Erleben und die Emotionen von<br />

anderen widerspiegeln. Das gilt nicht<br />

nur für offensichtliche Zustände wie<br />

Trauer, Zorn oder Ekel, sondern<br />

sogar für weniger deutliche Regungen<br />

wie Verlegenheit oder Einsamkeit.<br />

Seitdem klar ist, dass es nicht um<br />

vermeintliche Gefühlsduselei geht,<br />

sondern um messbare Vorgänge,<br />

wollen Neurologen, Biologen, Psychologen<br />

und Pädagogen erkunden,<br />

wie Empathie entsteht: Woher kennt<br />

der Körper bestimmte Sachverhalte,<br />

bevor sie angesprochen werden?<br />

Wie funktioniert diese Verbindung<br />

zwischen zwei Menschen, die über<br />

eine rein rationale Ebene hinausgeht?<br />

Alle sind sich einig: Es ist die<br />

Empathie, die uns überhaupt zu<br />

sozialen Wesen macht. Der Soziologe<br />

und Ökonom Jeremy Rifkin<br />

glaubt sogar, dass es gerade diese<br />

menschliche Eigenschaft ist, die<br />

unsere Zeit am meisten braucht. Er<br />

72 Mai <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

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